Nadia Murad warnt: Millionen Geflüchtete weltweit ohne Schutz

Interview

Friedensnobelpreisträgerin Murad:"Angst, den Tätern wieder zu begegnen"

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Nadia Murad flüchtete vor dem IS-Terror nach Deutschland. Hier konnte sie ihre Traumata in Kraft umwandeln. Die Menschenrechtlerin kämpft gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe.

(Archiv) Porträt von Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad.
(Archiv) Porträt von Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad.
Quelle: Imago

ZDFheute: Sie und Ihre Schwester haben den Genozid der Terrormiliz Islamischer Staat an den Jesiden überlebt und kamen in ein Flüchtlingslager im Irak. Wie sicher konnten Sie sich dort fühlen?
Nadia Murad: Es war beängstigend. Ich war dort mit Tausenden anderen Überlebenden und Vertriebenen. Und war selbst Vertriebene in meinem eigenen Heimatland, nur zwei Stunden von meinem eigentlichen Zuhause entfernt. Meine Familie war fast ausgelöscht.
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ZDFheute: Nur Ihre Schwester war bei Ihnen.
Murad: In diesen Lagern hat meine Schwester jedes Mal, wenn ich geduscht habe, an der Tür gewartet, weil jeder einfach in dein Zelt oder deine Kabine kommen konnte. Und wenn sie dann duschte, habe ich sie bewacht.

Wir waren voller Traumata und Scham, dort im Irak über das Erlebte zu sprechen. Über Vergewaltigungen.

Aber ich wollte diese Geschichte erzählen, weil ich Verantwortung fühlte. Ich war das meiner Freiheit schuldig – und den Frauen und Mädchen, die immer noch in Gefangenschaft waren.
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ZDFheute: Vor zehn Jahren wurden Sie dann in einem Sonderkontingent aus dem Irak nach Deutschland geholt.
Murad: Zu Beginn war eine große Angst: Den Tätern mit rasierten Bärten in Deutschland wieder zu begegnen. Diese Fälle gibt es hier. Doch die Regierung hat uns Schutz geboten. Ich wusste, dass niemand unsere Adresse hatte. Zum ersten Mal konnte ich mich beim Duschen sicher fühlen.
Dieses Gefühl hat mir geholfen, meine Gedanken zu sortieren und mein eigenes Trauma zu verarbeiten. In Heilbronn fühlte ich mich sicher, und ich hatte das Gefühl, dass ich mein Überleben, meine Freiheit nutzen muss, um das Bewusstsein für den Einsatz von Vergewaltigung als Kriegswaffe zu schärfen.
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ZDFheute: Indem Sie ihre eigene Menschenrechtsorganisation schufen.
Murad: In Stuttgart habe ich meine Organisation aufbauen können, Nadia's Initiative, die mit der Landes- und der Bundesregierung zusammenarbeitet. Durch diese Arbeit informiere ich auch über den Einsatz von Vergewaltigung als Kriegswaffe in anderen Ländern und besuche zum Beispiel Überlebende in der Ukraine, im Kosovo oder in Nigeria.

Die Jesidin Nadia Murad ist erst 32, hat aber schon viele Leben gelebt - und überlebt: den Genozid des sogenannten Islamischen Staats. Ihre Familie wurde 2014 fast ausgelöscht, sie selbst gefoltert und Opfer sexueller Gewalt. Seit 2016 ist sie die erste Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel und der Vereinten Nationen (UNODC). 2018 erhielt sie in den Friedensnobelpreis - als einzige Irakerin und Jesidin jemals. Seit 2015 lebt sie in Baden-Württemberg.

Das ist für mich die Gelegenheit, meine Gemeinschaft von Überlebenden konfliktbedingter sexueller Gewalt zu finden, aber gleichzeitig diese Gelegenheit zu nutzen und Deutschland zu erkunden, um zu lernen, mich zu integrieren und der Regierung von Baden-Württemberg und diesem Land etwas zurückzugeben.
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ZDFheute: In Deutschland verschärft die Bundesregierung die Migrationspolitik. Es gibt Zurückweisungen an den Grenzen, der Familiennachzug soll ausgesetzt werden. Was halten Sie von dieser Politik?
Murad: Deutschland hat sich so großzügig gegenüber Geflüchteten gezeigt wie kein anderes Land. Ich weiß, dass Deutschland seine Grenzen vor Kriminellen schützen muss, vielleicht vor denen, die Geflüchteten ausnutzen, vor Menschenhändlern.

Aber wir müssen der Menschlichkeit den Vorrang geben.

Wir müssen der Menschlichkeit eine Chance geben, wir müssen den Schwächsten den Vorrang geben, das sind immer Frauen und Kinder. Also ermutige ich die deutsche Regierung. Und ich ermutige sie nicht nur, ich gehe zu ihnen und spreche mit ihnen und sage, wir werden euch helfen, wir bringen euch echte Beispiele. Hoffentlich können wir sie davon überzeugen, einige Schwache aufzunehmen.
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ZDFheute: Glauben Sie, das wird passieren?
Murad: Wir sollten nicht müde werden der Regierung zu sagen, wer wirklich eine Chance verdient. Gleichzeitig sind wir gerne bereit, mit den deutschen Behörden zusammenzuarbeiten, um jeden zu finden, der in diesen Ländern Verbrechen begangen hat, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen oder nach Hause zu schicken.
ZDFheute: Jetzt gibt es einen neuen Krieg zwischen Israel und dem Iran. Befürchten Sie, dass bald viele Menschen aus dem Iran fliehen müssen?
Murad: Der Nahe Osten ist wie eine kleine Gemeinschaft. Wenn im Iran etwas passiert, wirkt sich das auf den Irak aus. Irak, Syrien, das ist alles so nah beieinander. Wenn sie vertrieben werden, wohin gehen sie dann? Sie gehen in den Libanon, den Jemen, den Irak, Syrien. Die ganze Region ist in Aufruhr. Es herrscht Panik, Angst und Unsicherheit.
Ich hoffe einfach, dass wir zusammenarbeiten können. Ich habe mit vielen iranischen Aktivisten und Journalisten zusammengearbeitet und bin ihnen begegnet. Und es sind erstaunliche Menschen. Es gibt dort Minderheiten, Kurden und andere. Und wir müssen wirklich in der Lage sein, nicht immer nur Krieg als Antwort zu benutzen.
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ZDFheute: Heute ist Weltflüchtlingstag: Wie sehen Sie die Lage von Geflüchteten weltweit?
Murad: Basierend auf meinen Gesprächen mit Geflüchteten und Vertriebenen wird es für sie immer schlimmer, weil es immer mehr Konflikte gibt. Im Nahen Osten, Sudan, Kongo, Afghanistan, Ukraine und vielen anderen Ländern. Wohin gehen diese Menschen? Selbst wenn sie wissen, dass Deutschland sie zurückschicken wird, riskieren sie ihr Leben und versuchen, der Sache eine Chance zu geben.
Und ich glaube, dass wir zusammenarbeiten müssen, die Menschen legal in andere Länder zu bringen, ihnen Asyl zu gewähren - oder in Länder wie den Irak, wo es zum Beispiel ein wenig Stabilität gibt.
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ZDFheute: 122 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht.
Diese 122 Millionen Menschen sind nicht nur eine Zahl. Es sind alles Menschen, die jeden Tag versuchen, ein besseres Leben für ihre Familien und ihre Gemeinschaften zu finden. Wenn man sie also einfach ignoriert oder zurückschickt, wird das Problem nicht gelöst werden. Es wird nur größer und größer werden.

Wir müssen mit den Geflüchteten zusammenarbeiten und nicht nur sagen, dass es eine Krise gibt.

Sondern es gibt auch viele erfolgreiche Geschichten von Geflüchteten, die, nachdem sie in den meisten Ländern einen sicheren Ort gefunden haben, ihr Leben dem Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit gewidmet haben.
Das Interview führte Jasmin Astaki-Bardeh, Reporterin im ZDF-Landesstudio Baden-Württemberg.

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