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Interview
Leben in Beirut:Die Angst vor einem permanenten Krieg
von Golineh Atai
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Ronnie Chatah hat seinen Vater bei einem Anschlag der Hisbollah verloren. Warum der Mord am Hisbollah-Chef für ihn kein Abschluss ist und wie er die Lage im Libanon sieht.
Der Libanon war bereits vor der Eskalation in Nahost gezeichnet: Seit zwei Jahren gibt es keinen Präsidenten, sondern nur eine geschäftsführende Regierung. 2020 gingen die Bilder der Explosion am Hafen in Beirut um die Welt. Und die Wirtschaft: kollabiert.
Seit September 2024 geht das israelische Militär intensiv gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon vor, Kämpfe begannen bereits im Oktober 2023. Mehr als 2.400 Menschen wurden seitdem getötet, fast anderthalb Million Menschen vertrieben. Ronnie Chatah lebt in Beirut. Sein Vater wurde vor Jahren getötet - bei einem Anschlag der Hisbollah-Miliz, deren Chef Hassan Nasrallah vor wenigen Wochen selbst getötet wurde. Im Interview spricht er über den Mord am Mörder seines Vaters, über Beirut und den Libanon im Krieg.
ZDFheute: Wie reagierten Sie auf den Tod von Hisbollah-Chef Nasrallah?
Ronnie Chatah: Ich schrieb einen Artikel mit dem Titel "Der Mord an einem Mörder". Ich wollte begreifen, warum ich keine Erleichterung fühlte, kein Nachlassen des Schmerzes, keinen Schlussstrich. Warum der Mord [Anm. d. Redaktion: an Nasrallah] keinen Trost brachte. Ich fühlte nicht im Geringsten etwas Positives. Und die Antwort, die ich fand, war: Was passierte, ist weit weg von Gerechtigkeit. Es ist nur der Mord an einem Mörder.
Der Grund, warum der Mord für mich keinen Abschluss brachte, war, glaube ich, dass Gerechtigkeit nicht durch Kriege hergestellt werden kann. Nach meiner Erfahrung ist Gewalt kein Weg, um Frieden zu verfolgen. Gewalt bringt nur mehr Gewalt. Der Mord an Nasrallah hat weder für seine Opfer noch seine Anhänger etwas gelöst. Wir stecken beide fest und kommen nicht weiter.
Ronnie Chatah ist ein libanesischer Autor und Journalist, der in Beirut lebt. Unter anderem ist Chatah Host des Podcasts "The Beirut Banyan".
Sein Vater war ein pro-westlicher Minister und Diplomat, der 2013 bei einem Anschlag getötet wurde, der der Hisbollah zugeschrieben wird.
Sein Vater war ein pro-westlicher Minister und Diplomat, der 2013 bei einem Anschlag getötet wurde, der der Hisbollah zugeschrieben wird.
Ronnie Chatah ist Autor und Journalist aus Beirut. Er verlor seinen Vater bei einem Anschlag, der der Hisbollah zugeschrieben wird.
Quelle: ZDF
ZDFheute: Beschleunigt der Krieg den Zerfall des Libanon? Das Land schien zuvor bereits am Abgrund - seit zwei Jahren ohne einen Präsidenten, die Wirtschaft war kollabiert, nur eine geschäftsführende Regierung im Amt …
Chatah: Ich denke, solange in der palästinensischen Sache so gekämpft wird, dass sie dem Libanon in seinen Grenzen schadet, haben wir Libanesen ein permanentes Problem. Ein Land kann da nicht raus, ohne zusammenzubrechen. Wir sind ein Land ohne Schlussstriche.
Schauen Sie sich meinen Kühlschrank an. Er ist voller Schrammen. Das passierte 2020, im Jahr der Hafenexplosion, der größten nicht-nuklearen Explosion der Welt, als meine Fensterscheiben zerbarsten. Tausende Verletzte, mehr als 200 Tote. Bislang wurde niemand zur Verantwortung gezogen, keine Gerechtigkeit - im Gegenteil.
Israel griff unlängst mitten in Beirut an und zielte auf einen Hisbollah-Mann - jenen, der, unter anderem, die Ermittlungen zur Hafen-Explosion verhindert hatte. Aber der Mann überlebte - stattdessen wurden mehr als zwanzig Libanesen, Zivilisten, getötet und mehr als hundert verletzt. Das ist die sich wiederholende Geschichte meines Landes.
ZDFheute: Fürchten Sie einen langen Krieg im Libanon?
Chatah: Ich fürchte, er könnte potenziell permanent werden: Wenn es einen permanenten Konflikt gibt, wo die palästinensische Sache zur Nebensache wird und es dem iranischen Regime mehr um sein Überleben geht. Und ich bezweifle, dass es irgendeine diplomatische Initiative derzeit gibt, die den Libanon eher schützen als der Gefahr aussetzen will.
Im Krieg kann ein Land sich nicht reformieren, nicht effektiv regiert werden. Schauen wir auf die 1980er, auf die Bürgerkriegsjahre, als das Land größtenteils unregierbar war, in Machtbereiche separiert. Ich fürchte, in diesem langen Krieg werden die Libanesen auch wieder anfangen, einander zu bekämpfen.
ZDFheute: Israels Premier Netanjahu sagt, dass die Libanesen die Hisbollah bekämpfen sollen, sonst drohe eine Zerstörung wie in Gaza …
Chatah: Das ist lächerlich und gefährlich. Ich denke, je mehr Israel zerbombt, je mehr israelische Flaggen es auf libanesischem Territorium hisst, je mehr Zivilisten sterben, umso mehr öffnen sich die Libanesen der Idee des "Widerstands" gegen Israel.
Es ist ein unpopulärer Krieg. Ein Jahr nach Beginn der Kämpfe gibt es vermehrt Sympathien für den Widerstand gegen Israel - und zugleich ist wahr, dass die Hisbollah, die die libanesische Politik erstickte und lähmte, unbeliebt bleibt. Nur: Man kann eine Gruppe nicht eliminieren. Man kann ihre Führung eliminieren, aber es wird immer noch eine Organisation namens Hisbollah geben. Eine Ausmerzung funktioniert nicht.
Man muss einen konstruktiven Weg finden, um etwas zu übernehmen, was der Iran gegründet hat - und einen Weg finden, um das Militärmonopol allein dem Staat zu geben. Es braucht Diplomatie.
Das Gespräch führte Golineh Atai, Leiterin des ZDF-Auslandsstudios Kairo für die arabische Welt.
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