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Generation Erdoğan:Türkei: Warum junge Menschen protestieren
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Die türkische Jugend demonstriert für den Rechtsstaat und Demokratie. Ihr Leben lang kennen sie nichts anderes als eine Türkei, deren Geschicke Recep Tayyip Erdoğan bestimmt hat.
"Der Mensch hat immer Hoffnung" steht auf den Ballons, die sie in den Himmel steigen lassen. Ihre Hoffnung, die wollen sie sich nicht auch noch nehmen lassen. Denn jeder Ballon steht für einen der meist jungen Menschen, der seine Teilnahme an den Massenprotesten gegen die Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan mit dem Gefängnis bezahlt hat.
301 Menschen sitzen in Untersuchungshaft, viele andere stehen unter Hausarrest. Mit aller Härte geht der türkische Staat gegen seine Kritiker vor. Auch bei der großen Demo im Istanbuler Stadtteil Maltepe, die von der größten Oppositionspartei, CHP, organisiert wurde, ist die Polizei mit Hundertschaften vor Ort. Ganz offen filmen Polizisten Demonstrationsteilnehmer und Journalisten.
Sorgen um schlechte Bezahlung und hohe Inflation
Öykü will sich davon nicht einschüchtern lassen. Sie ist 25 Jahre alt und Schauspielerin und hat den Ballonprotest organisiert. Mit Ballons um den Bauch hatte sie schon vor der Istanbuler Stadtverwaltung protestiert - vor einer Wand aus türkischen Polizisten. Sie nennt das eine Performance.
"Ich vertraue den Leuten, die mit mir in diesem Land leben," sagt sie. Die Polizisten seien in einer ähnlichen Situation wie viele andere junge Leute: schlechte Bezahlung, hohe Inflation, Sorgen wie sie sich ihr Leben überhaupt leisten könnten.
Generation Erdogan begehrt auf
Die Generation Erdoğan begehrt auf. Jeder, der unter 30 ist, ist mit ihm und seinem System aufgewachsen, das zunehmend autokratischer wird. Die Proteste wegen der Absetzung und Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters İmamoğlu sind die größten Massendemonstrationen in der Türkei seit den Gezi-Protesten vor zwölf Jahren.
Am 19. März wurde Ekrem İmamoğlu, der populäre Bürgermeister von Istanbul, festgenommen. Er sitzt jetzt in Untersuchungshaft, weil ihm Korruption vorgeworfen wird. Auch wegen Terrorverdacht wird gegen ihn ermittelt.
İmamoğlu gilt als stärkster innenpolitischer Konkurrent des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Inzwischen ist er der Präsidentschaftskandidat seiner Partei, der CHP. Gewählt von 15 Millionen Türken, die zum großen Teil nicht Parteimitglieder sind.
Die Wahl fand vier Tage nach seiner Verhaftung statt. Tagelang hatte es in Istanbul und in vielen anderen türkischen Städten Massenproteste gegeben. In den letzten Tagen war es ruhiger, auch weil Präsident Erdoğan die Bayram-Feiertage verlängert hat.
İmamoğlu gilt als stärkster innenpolitischer Konkurrent des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Inzwischen ist er der Präsidentschaftskandidat seiner Partei, der CHP. Gewählt von 15 Millionen Türken, die zum großen Teil nicht Parteimitglieder sind.
Die Wahl fand vier Tage nach seiner Verhaftung statt. Tagelang hatte es in Istanbul und in vielen anderen türkischen Städten Massenproteste gegeben. In den letzten Tagen war es ruhiger, auch weil Präsident Erdoğan die Bayram-Feiertage verlängert hat.
Wir bräuchten eine andere Perspektive, jüngere Leute in der Regierung. Sie interessieren sich nicht für uns.
Öykü, Demonstrantin
Öykü ist vorsichtig, vermeidet es den Namen Erdoğan zu nennen. Weil sie Angst hat. Denn auf Präsidentenbeleidigung steht in der Türkei Gefängnis.
Fehlendes Vertrauen in den Rechtsstaat
Deniz Dinçer sitzt in Untersuchungshaft im selben Gefängnis wie Ekrem İmamoğlu. Der türkische Staat wirft ihr die Teilnahme an einer verbotenen Demonstration vor. Darauf stehen in der Türkei bis zu drei Jahre Haft. Deniz ist 22 Jahre alt. Auch sie will Schauspielerin werden.
Ihre Mutter Cihan Erdoğuş hat sie im Gefängnis einmal besuchen dürfen. Zusammen mit 40 anderen jungen Frauen ist sie dort. Sie habe dunkle Ringe unter den Augen und sie sei hungrig gewesen. Geschlafen haben sie auf einer Matte auf dem Boden, erzählt die Mutter.
Ob sie Vertrauen in den türkischen Rechtsstaat, die Justiz habe, fragen wir sie. Ihre Antwort kommt schnell: "Nein. Deshalb sind sie ja dort. Es ist alles rechtswidrig." Deniz wurde an einer Metro-Station in Istanbul verhaftet. Auf dem Heimweg von der Demonstration.
"Entscheidung, um jungen Menschen Angst einzujagen"
Önder İbrahim Yıldırım ist Anwalt und hat Deniz im Gefängnis besuchen können. Er und viele seiner Kollegen arbeiten ehrenamtlich. Der türkische Staat setze auf Einschüchterung:
Solche Entscheidungen werden getroffen, um jungen Menschen Angst einzujagen.
Önder İbrahim Yıldırım, Anwalt
Deniz und all die anderen hätten ein in der Verfassung festgeschriebenes Recht auf Protest. Öyku glaubt an die Kraft ihrer Generation, die mit Social Media aufgewachsen ist und weiß, was woanders möglich ist. Sie glaubt an Veränderung und die jungen Leute in der Türkei.
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