Bergsturz in Schweizer Alpen:Dorf begraben - Flut droht in "Morgenstunden"
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In den Schweizer Alpen begraben gewaltige Geröllmassen das Dorf Blatten unter sich. Und sie verstopfen das Flussbett der Lonza. Das Wasser steigt, es droht eine Flutwelle.
Das Bergdorf Blatten in der Schweiz ist unter riesigen Geröll- und Eismassen begraben - jetzt droht eine weitere Katastrophe: Nach dem gigantischen Gletscherabbruch im Lötschental verhindert ein meterhoher Damm aus Schutt und Eis den Abfluss des Flüsschens Lonza im Kanton Wallis. Dahinter stauen sich immense Wassermassen.
Der See, der sich dahinter gebildet hat, dürfte "in den frühen Morgenstunden" überlaufen, sagte Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren bei einer Pressekonferenz in Ferden im Lötschental. "Ziel ist es, diesen Prozess möglichst gut zu antizipieren und die Sicherheit der Bevölkerung weiter unten sicherzustellen." Was genau passieren könnte, versuchen Spezialistinnen und Spezialisten nun rund um die Uhr, mit Erfahrung und Computermodellen vorauszusagen.
Riesige Flutwelle oder langsamer Abfluss?
Dass eine riesige Flutwelle das Tal hinunter donnert, sei zwar nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, sagte Staatsrat Stéphane Ganzer, Mitglied der Walliser Kantonsregierung. Der Druck durch das nachfließende Wasser der Lonza sei da, insofern könnten sich die Wassermassen auch plötzlich einen Canyon durch den Schuttberg brechen. Zudem werde am Freitag oben im Tal mit 20 Grad Temperatur gerechnet. Dann schmelze der Schnee, was die Wassermengen noch erhöhe.
Nach Angaben von Studer ist aber ein Szenario mit einem langsameren Abfluss wahrscheinlicher, "dass der See sich schrittweise entleert, dass das in geordnetem Rahmen abläuft". Gut sei, dass das Gefälle am Schuttkegel eher flach ist, sagte Studer. Möglich sei auch, dass das Wasser das abgelagerte Material verflüssigt und mit ins Tal reißt. Aber auch dabei sei zu erwarten, "dass nicht allzu viel Geschiebematerial auf einmal abgeht". Im Ort Ferden weiter unten im Tal gibt es ein Staubecken und eine Staumauer. Experten gingen davon aus, dass dort sämtliches Material aufgehalten werde.
Armee kann Gebiet nicht betreten - zu gefährlich
Die Lage am Berg ist nach wie vor gefährlich. Zum einen drohen am Berg Kleines Nesthorn weitere Hunderttausende Kubikmeter Fels abzustürzen. Von dort waren Felsbrocken auf den Birschgletscher gestürzt, der unter der Last am Mittwochnachmittag abbrach und ins Tal donnerte. Von den gigantischen Mengen Geröll wurde ein Teil auf der gegenüberliegenden Talseite hochgeschoben. Dort drohen nun Gerölllawinen.
Wie stabil der eigentliche Schuttpegel ist, weiß auch niemand. Weil darin Eis ist, könnten sich Wassertaschen bilden. Räumtrupps der Armee stehen zwar bereit, aber das Gebiet zu betreten sei noch zu gefährlich, so die Behörden.
Blatten unter Erdmassen begraben
Das Dorf Blatten indes ist auf Drohnenbildern kaum mehr zu erkennen. Die rund 300 Einwohner haben alles verloren. 90 Prozent des Dorfes - rund 130 Häuser sowie die Kirche - liegen unter den Erdmassen. Die meisten der wenigen zunächst verschonten Häuser sind von der Lonza überflutet.
Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1.500 Metern. Die Behörden hatten schon Mitte Mai gewarnt, dass oberhalb des Dorfes ein Bergsturz droht.
Als die Spalten im Fels schnell wuchsen, kam am 19. Mai der Aufruf, das Dorf innerhalb einer Stunde zu verlassen. Viele packten das Nötigste zusammen und flohen. Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet aufhielt, wird vermisst.
Abgeordneter spricht von Jahrhundertkatastrophe für das Tal
Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarort Wiler sprach im Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. Auch aus Wiler und Kippel sowie von der Fafleralp wurden Menschen in Sicherheit gebracht.
"Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat", sagte Rieder im Schweizer Fernsehen. "Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat."
Man blickt auf den Bildschirm und kann nichts machen, das ist ein schwerer Schock.
Beat Rieder, Abgeordneter
Ist der Klimawandel Grund für den Bergsturz?
Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, sagte Jan Beutel, Professor der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost sowie Klimaeinflüsse. Dennoch: "Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte", sagte er laut Mitteilung der Universität Innsbruck. "Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht - eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen."
Durch Gletscherschmelze und schnelles Tauen von Schnee könnten Wasser und Wind das Gestein erodieren. Der Permafrost - die gefrorene Gesteinsschicht - werde immer wärmer, die Schicht, die bei Sommertemperaturen auftaue, immer tiefer. "Auftauen bedeutet aber auch, dass mehr flüssiges Wasser zur Verfügung steht - auch im Inneren des Berges - und das schmiert und fördert die Beweglichkeit, getrieben von der Gravitation", sagte Beutel.
Quelle: dpa
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