Schuss auf Mädchen in Bochum: Experte sieht Defizite bei Polizei

Interview

Schuss auf Mädchen in Bochum:Experte: "Sehen, dass es Defizite in der Ausbildung gibt"

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In Bochum hat die Polizei auf ein zwölfjähriges Mädchen geschossen. Kriminologe Singelnstein erklärt, warum mutmaßliche Messerangriffe oft zum Einsatz von Schusswaffen führen.

Kriminologe Prof. Tobias Singelnstein in seinem Büro.

Die Polizei reagiere auf Messerbedrohung nach festen Abläufen - solche Distanzen und Schussentscheidungen würden routiniert eingeübt, sagt Kriminologe Prof. Tobias Singelnstein.

17.11.2025 | 11:14 min

Der Fall in Bochum sorgt bundesweit für Aufsehen: Polizisten haben ein zwölfjähriges Mädchen angeschossen, nachdem sie sich von ihr mit zwei Messern bedroht fühlten. Was genau passiert ist, bleibt unklar. Die Ermittlungen laufen, viele Details kennt bislang nur die Polizei selbst.

Der Fall folgt einem Muster, das aus anderen Einsätzen bekannt ist, etwa aus Dortmund und Oldenburg: Polizisten verteidigen sich gegen mutmaßliche Messerangriffe mit Schusswaffen.

Kriminologe Tobias Singelnstein ordnet bei ZDFheute live ein, welche Routinen in der Ausbildung bei Einsätzen wie diesen eine Rolle spielen und wo strukturelle Probleme liegen.

Sehen Sie oben das ganze Interview im Video und lesen Sie es hier in Auszügen. Das sagt Singelnstein …

… zu den Mustern hinter solchen Einsätzen

Der Kriminologe warnt davor, den konkreten Fall schon abschließend zu bewerten - dafür seien zu wenige Fakten bekannt. Doch das Grundmuster sei vertraut: In vielen Einsätzen gehe es um Situationen, in denen Beamte ein Messer als Bedrohung wahrnehmen. Das sei ein Standard-Szenario in der Ausbildung.

Nahaufnahme eines Polizei-Blaulichts.

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Laut Singelnstein wird Polizisten vermittelt, dass ab einer kritischen Distanz von weniger als etwa zehn Metern geschossen werden soll, um einen Messerangriff zu stoppen. "Das wird sehr schematisch und routiniert geschult", sagt Singelnstein.

Dieses Schema werde in Bedrohungslagen schnell "abgespult". Wenn es sich dabei um ein Kind handelt, müsse zwar abgewogen werden - praktisch bleibe dafür aber oft kaum Zeit.

Wenn (Polizisten) eine Bedrohungswahrnehmung haben, dann spulen sie eher eingeübte Muster und Routinen ab. 

Tobias Singelnstein, Kriminologe

Ein Mehrfamilienhaus in Bochum. Dort wurde eine gehörlose Zwölfjährige durch Schüsse schwer verletzt. Zuvor soll sie mit zwei Messern auf die Polizisten zugegangen sein.

Bei einem Polizeieinsatz in Bochum wurde eine gehörlose Zwölfjährige durch Schüsse aus einer Dienstwaffe lebensgefährlich verletzt. ZDF-Reporter Thomas Münten berichtet von der Situation.

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… zu möglichen Defiziten in der polizeilichen Ausbildung

Singelnstein verweist auf ähnliche Fälle: In Dortmund starb der 16-jährige Mouhamed Dramé, in Oldenburg wurde gegen Beamte nach dem Tod von Lorenz A. Anklage erhoben.

In beiden Fällen gingen Polizisten fälschlicherweise von einem Messerangriff aus. Das Muster: Wird ein Messer vermutet, werde schnell zur Schusswaffe gegriffen - oft mit tödlichem Ausgang.

Die Ausbildung berücksichtige zwar viele Einsatzlagen, aber nicht alle. Deshalb würden spezielle Einsatzsituationen eher oberflächlich gelehrt: "Bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen wird man in der polizeilichen Ausbildung noch nachsteuern müssen", sagt Singelnstein.

Im Vordergrund steht ein Polizist mit Maschinenpistole in der Hand, dahinter links das grün leuchtende Spur-Logo, rechts sieht man ein Plakat, auf dem Mouhamed zu sehen ist.

Der 16-jährige Flüchtling Mouhamed droht, sich das Leben zu nehmen. Die Polizei wird gerufen, kurz darauf ist der Junge tot. Getötet von Kugeln aus einer Polizeiwaffe.

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… zu strukturellen Problemen hinter solchen Einsätzen

Drei Jahre Ausbildung reichten nicht aus, um allen komplexen Situationen gerecht zu werden, sagt Singelnstein. Hinzu komme die öffentliche Debatte über Messerangriffe, die auch die Bedrohungswahrnehmung in der Polizei beeinflusse.

Obwohl die Datenlage unklar sei, würden Messer in der Gesellschaft und somit auch bei Einsatzkräften stärker als Gefahr wahrgenommen. Dadurch könne es schneller zu Schusswaffengebrauch kommen. Die Diskussion um die Gefahr durch Messer sei "eine Debatte, die auch an der Polizei und den einzelnen Beamtinnen und Beamten nicht spurlos vorbeigeht."

Singelnstein betont: Die Beamten wollten sich schützen - das sei nachvollziehbar. Doch gleichzeitig müsse diskutiert werden, ob die routinemäßige Anwendung der Schusswaffe in Messersituationen wirklich der richtige Weg sei.

Das Interview führte ZDFheute live-Moderator Philip Wortmann, zusammengefasst hat es Tim-Niklas Grimm.

Quelle: ZDF

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