mit Video
Verknüpfte Sinne:Synästhesie: Farben hören und Worte sehen
|
Synästhesie lässt Klänge zu Farben und Zahlen zu Tönen werden. Etwa vier Prozent der Menschen erleben diese Wahrnehmung. Ein Blick auf das bunte Leben der Synästhetiker.
Synästhesie ist eine außergewöhnliche Form der Wahrnehmung, bei der die Grenzen zwischen den Sinnen verschwimmen. Für Synästhetiker erscheinen Klänge als Farben, Buchstaben nehmen Formen an, Zahlen leuchten in bestimmten Tönen - eine Realität, die für sie ganz natürlich ist, für andere jedoch kaum vorstellbar.
Etwa vier Prozent der Bevölkerung erleben diese besondere Sinnesverknüpfung. Neurowissenschaftler vermuten, dass eine verstärkte Vernetzung von Hirnarealen, insbesondere im Scheitellappen, dafür verantwortlich ist. Dabei bleibt die Wahrnehmung konstant und vorhersagbar - ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zur Halluzination.
Gesprochene Sprache sehen
Für Daniela Uhl ist die Musik nicht nur ein Zusammenklang verschiedener Töne, sondern auch Farbe und Bewegung. Sie lebt mit einer sogenannten Sound-to-Vision-Synästhesie, bei der sich Melodien und Geräusche in ihrem Kopf als fließende Formen und Farbverläufe zeigen. Besonders intensiv ist ihre Wahrnehmung, wenn sie die Augen schließt. Dann tanzen die Töne wie ein Feuerwerk vor ihrem inneren Auge.
Doch das ist nicht die einzige Besonderheit in ihrer Wahrnehmung: Sie sieht auch gesprochene Sprache. Wie bei einem Nachrichtenticker laufen die Worte, die sie hört oder selbst spricht, visuell vor ihrem geistigen Auge ab. Diese Form nennt sich Ticker-Tape-Synästhesie - und sie lässt Daniela gewissermaßen permanent "mitlesen", was gerade gesagt wird.
Was genau bei Synästhesie im Gehirn geschieht, untersuchte der französische Wissenschaftler Raphaël Bourda mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomographie. In einem Experiment beobachtete er, wie Maike Preissing auf schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund blickte. Während bei neurotypischen Personen keine Aktivität im Farbzentrum des Gehirns messbar war, leuchtete bei Preissing der visuelle Cortex auf, also dort, wo Farben verarbeitet werden. Ein klarer Hinweis darauf, dass ihre farbige Wahrnehmung nicht Einbildung, sondern messbare Realität ist.
Töne bei Synästhesie sichtbar
Ähnlich geht es Alexandra Kirschner, Stimmbildnerin aus Stuttgart. Ihre Synästhesie verwandelt Musik in komplexe visuelle Kompositionen. Für sie sind Töne nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar. Als Linien, Muster oder Texturen.
Eine schiefe Note erscheint als verzogene Linie, eine kratzige Stimme als verwischtes Bild. Diese visuelle Komponente hilft ihr nicht nur beim Unterrichten, sondern auch dabei, musikalische Feinheiten präzise zu analysieren und zu korrigieren.
Zehn Sinne auf einmal - Leben mit multipler Synästhesie
Maike Preissing, Psychologin und Coach für Neurodiversität, erlebt ganze zehn verschiedene Synästhesie-Formen. Darunter ebenfalls Ticker-Tape.
Die von ihr wahrgenommenen Buchstaben verändern sich je nach Emotion und Sprache. Ist eine Stimme aufgebracht, werden die Worte größer oder fettgedruckt, als würde das Gesagte durch Typografie mitschwingen. Für sie ist das nicht nur faszinierend, sondern auch fordernd, denn die permanente Reizverarbeitung kann schnell für sie überfordernd werden.
Preissing nutzt ihre Erfahrungen, um aufzuklären. Auf Social Media und in ihrem Podcast spricht sie offen über ihre Wahrnehmung und bietet Orientierung für andere Betroffene. Viele hätten ihre Synästhesie lange Zeit aus Angst versteckt gehalten. Sie selbst hilft heute, diese bunte Innenwelt verständlich und sichtbar zu machen.
Sprachen als fließende Schrift
Eine besonders bemerkenswerte Ausprägung der Ticker-Tape-Synästhesie zeigt sich bei Sydney Noemi Stein. Die 21-Jährige spricht fließend 15 Sprachen. Eine Fähigkeit, die eng mit ihrer synästhetischen Wahrnehmung verknüpft ist.
Zwischen Fluch und Segen
Synästhesie ist mehr als ein faszinierendes Phänomen. Sie prägt die Wahrnehmung, den Alltag und oft auch die Biografien der Betroffenen. Sie eröffnet außergewöhnliche Perspektiven und ist für viele eine Stärke.
Doch sie kann auch zur Belastung werden - vor allem in einer Welt, die auf neurotypische Wahrnehmung ausgerichtet ist. Was für die einen ein Geschenk ist, kann für andere schnell zur Reizüberflutung werden. Fluch und Segen - beides liegt oft nah beieinander.
Quelle: dpa
Sie wollen auf dem Laufenden bleiben? Dann sind Sie beim ZDFheute-WhatsApp-Channel richtig. Hier erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten auf Ihr Smartphone. Nehmen Sie teil an Umfragen oder lassen Sie sich durch unseren Podcast "Kurze Auszeit" inspirieren. Zur Anmeldung: ZDFheute-WhatsApp-Channel.
Quelle: ZDF
Mehr zum Gehirn und zu Neurologie
mit Video
Hirnforschung und KI:Neuro-Rechte: Wer schützt unsere Gedanken?
von Ralph Benz
mit Video
Gehirn aus dem Gleichgewicht:Delir nach Operation mit Narkose
von Gunnar Fischer