Unumkehrbare Schäden:Welche fatalen Folgen Hunger bei Kindern hat
von Christiana Ennemoser
Millionen Kinder weltweit leiden unter chronischem Hunger und Unterernährung. Nothilfe ist erforderlich. Nahrungsnot von Kindern hat jedoch auch immense langfristige Folgen.
Syrien: Bei einem Kleinkind ist Mangelernährung festgestellt worden. (Archiv)
Quelle: alkharboutli, anas/dpaDie humanitäre Lage in Gaza war zuletzt dramatisch: Zigtausende Vertriebene, ihr Zuhause von Raketen zerstört, abgeschnitten von Hilfslieferungen. Die UN hat vor einigen Wochen eine Hungersnot festgestellt; das bedeutet, dass viele Menschen im Land an Hunger sterben.
Seit wenigen Tagen läuft die Hilfe wieder an: dringend benötigte Nahrungsmittel, Notunterkünfte, Medikamente sind auf dem Weg in das Land, in dem auch die Infrastruktur fast überall zerstört ist.
UNICEF-Chefin Russel rechnet in diesem Jahr mit einem Minus von 20 Prozent. Dies habe insbesondere Folgen für Kinder in Krisenregionen.
15.10.2025 | 0:29 minDoch monatelanger Hunger hat gravierende, unumkehrbare Folgen über Jahrzehnte - vor allem für Kinder und Jugendliche.
Monatelange Behandlung erforderlich nach Monaten des Hungers
Kinderarzt Nicolas Aschoff ist seit mehreren Jahren für Ärzte ohne Grenzen als Notfallmediziner im Einsatz und engagiert sich mit der Organisation L'appel im Bereich Entwicklungszusammenarbeit. Auch bei seinem aktuellen Einsatz in einem Notstandsgebiet in Nigeria kümmerte er sich um Kinder, die derart Hunger leiden, dass sie zu sterben drohen.
Diese schwer mangelernährten Kinder sind sehr oft auch schwer krank, haben Infektionen. Zudem ist das Hormonsystem derangiert und die neurologische Entwicklung verzögert.
Nicolas Aschoff, Notfallmediziner und Kinderarzt
Hunger wird als "unangenehmes oder schmerzhaftes körperliches Gefühl" definiert, "das durch eine unzureichende Zufuhr von Nahrungsenergie verursacht wird". Fehlen über längere Zeit Kalorien, "um ein normales, aktives und gesundes Leben zu führen", spricht man von chronischem Hunger.
Mangelernährung meint nicht nur ein Defizit an Nahrung, sondern kann auch bedeuten, dass zu viel oder die falsche Nahrung aufgenommen wird - mit zu wenigen Vitaminen und Mineralien. Diesen Mangel an Mikronährstoffen bezeichnet man auch als "verborgenen Hunger". Für Mangelernährung im Sinne einer zu geringen Energieaufnahme wird oft auch der Begriff Unterernährung verwendet.
Wer von materieller Ernährungsarmut betroffen ist, kann sich eine gesunde Ernährung finanziell nicht leisten. In Deutschland waren das im Jahr 2023 etwa drei Millionen Menschen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) unterscheidet zwei Stufen von Ernährungsarmut bei Kindern - je nachdem wie viele verschiedene Lebensmittelgruppen pro Tag gegessen werden:
- schwere Ernährungsarmut: 0–2 Lebensmittelgruppen
- mäßige Ernährungsarmut: 3–4 Lebensmittelgruppen
Davon unterscheidet sich die soziale Ernährungsarmut, "die Menschen von der sozialen Teilhabe ausschließt", zum Beispiel von gemeinsamen Mahlzeiten außer Haus.
Quellen: Aktion gegen den Hunger; Bundeszentrum für Ernährung; Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO); Malteser International; Unicef
Zwei bis vier Wochen dauere es in der Regel, bis ein Kind die stationäre Behandlung verlassen kann, so Aschoff. Aber damit sei die Behandlung bei weitem nicht abgeschlossen. Denn dann werden die Patienten ambulant weitertherapiert und über Monate überwacht.
Viele Kinder kommen in sehr schlechtem Zustand erneut in die Klinik, weil es zu Hause an Nahrung fehlt. Auch in unseren Kliniken ist Sterblichkeit mangelernährter Kinder extrem hoch.
Nicolas Aschoff, Notfallmediziner Ärzte ohne Grenzen
Hohe Kindersterblichkeit, unumkehrbare Folgen
Allein im Projekt im nigerianischen Katsina, in dem Aschoff seit Wochen arbeitet, starben im ersten Halbjahr mindestens 652 Kinder an den Folgen von Hunger. "Das ist ein Anstieg um 200 Prozent im Vergleich zum Vorjahr", stellt der Kinderarzt fest. "Und die Dunkelziffer ist sehr viel höher." Im Sudan und in Gaza seien die Zahlen noch mal ganz andere.
UNICEF-Chefin Russel rechnet in diesem Jahr mit einem Minus von 20 Prozent. Dies habe insbesondere Folgen für Kinder in Krisenregionen.
15.10.2025 | 0:29 minBesonders bei Kindern im Alter bis zu fünf Jahren haben Mangel- und Unterernährung gravierende und unumkehrbare Folgen. Zum einen bleibt die körperliche Entwicklung mangels Nährstoffen zurück, zum anderen sind schwere Verläufe von Erkrankungen, wie Malaria, Masern und Durchfall, ebenfalls Begleiterscheinungen von Mangelernährung.
Durch das Fehlen von Vitaminen und Nährstoffen ist auch die neurologische Entwicklung bei diesen Kindern verzögert.
Nicolas Aschoff, Kinderarzt und Notfallmediziner
Entwicklung verzögert, Immunsystem geschwächt - auf Dauer
Das bedeutet, die Kinder sind - und bleiben auch als Erwachsene - kleinwüchsig und haben eine geringere Muskelmasse; dadurch sind sie körperlich weniger belastbar. Das Immunsystem bleibt lebenslang geschwächt, weshalb diese Personen häufiger erkranken und schwerere Krankheitsverläufe durchleiden.
1985 sammelten Musikergrößen wegen einer Hungerkrise Spenden für Äthiopien. Vierzig Jahre später ist das Geld wieder knapp, der Hunger noch immer nicht besiegt.
13.07.2025 | 2:46 minHinzu kommt für diese Kinder später, im Erwachsenenalter, ein erhöhtes Risiko für chronische Erkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ihr Risiko, viel früher daran zu sterben als gut ernährte Kinder, ist ebenfalls erhöht, selbst wenn die Mangelsituation irgendwann beendet ist.
Auch die Gehirnentwicklung ist verzögert. Die daraus resultierende Lern- und Konzentrationsschwäche führt letztlich zu einer geringeren Produktivität. Schlechte Nährstofflage kann auch zu geistigen Behinderungen führen.
Mangelernährung ist auch im IQ messbar.
Nicolas Aschoff, Kinderarzt und Notfallmediziner
Null-Hunger-Ziel Agenda 2030: Situation sogar verschlechtert
Der Teufelskreis aus Armut, Mangelernährung, Erkrankungen und geringer Leistungsfähigkeit führe zu erneuter Armut, so Aschoff, mit Folgen über Generationen für die Gesellschaft.
Wer sich in Ernährungsunsicherheit befindet, hat nicht ausreichend Zugang zu adäquater Nahrung oder weiß nicht, woher die nächste Mahlzeit kommen soll - so definiert es das US-Landwirtschaftsministerium. Nicht zu verwechseln mit einer unsicheren Ernährungslage mit Hungerleiden - eine mögliche Konsequenz aus Ernährungsunsicherheit.
Dabei hat sich die Weltgemeinschaft mit der Agenda 2030 auf das Ziel "zero hunger" geeinigt, und die Ressourcen dafür seien weltweit auch vorhanden, erklärt Justine Aenishaenslin, Fachreferentin für Ernährung und Gesundheit bei World Vision Deutschland e.V..
Die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, hat seit 2016 sogar zugenommen. Extremwetterlagen, Wirtschaftskrisen und Konflikte haben dazu geführt.
Justine Aenishaenslin, World Vision Deutschland e.V.
Die Trump-Regierung hat kein Interesse mehr an Entwicklungshilfe. Für die Menschen in den betroffenen Regionen bedeutet das Hunger, Krankheit und kein Zugang zu sauberem Wasser.
02.07.2025 | 2:24 minVermeidung von Hunger und Mangelernährung machbar
Neben akuter Nothilfe ist es Organisationen wie World Vision daher auch wichtig, extreme Notlagen gar nicht erst entstehen zu lassen - mit Wissensvermittlung vor Ort über ausgewogene Ernährung und Hygiene, ebenso wie über klimaangepasste Anbaumethoden und Wiederbegrünungsprojekte für ausgedörrte Böden.
Die Investitionskosten für einen Gemeinschaftsgarten inklusive Saatgut belaufen sich laut World Vision auf circa 150 Euro; davon profitieren bis zu 13 Familien. Die Notfallnahrung für schwer Mangelernährte kostet pro Tag und Kind einen knappen Euro.
Seit 2023 ist im Sudan Bürgerkrieg. Laut UNO herrscht dort die schwerste humanitäre Krise der Welt - mit über zwölf Millionen Flüchtlingen, Hunger und Cholera.
22.08.2025 | 2:27 minDie weltweiten Kürzungen bei der Entwicklungshilfe haben massive Folgen, so Aenishaenslin. Schon jetzt verrotteten dringend benötigte Hilfsgüter in Lagern, weil deren Transport nicht mehr finanziert werden könne. Die Ärmsten und Vulnerabelsten hätten die Folgen zu tragen; das Ziel "Kein Hunger mehr bis 2030" sei damit in weite Ferne gerückt.
Dabei ist in Ernährung zu investieren eine kluge Investition, denn jeder investierte Dollar bringt eine Rendite von 23 Dollar.
Justine Aenishaenslin, World Vision Deutschland e.V.
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