Bulgarien: Roma-Siedlung trotz Verbot in Sofia geräumt
Minderheit in Bulgarien:Sofia räumt Roma-Siedlung - trotz Verbotes
von Christian von Rechenberg, Ansgar Wendt
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Bulgariens Hauptstadt lässt ein Roma-Viertel räumen, obwohl es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verboten hatte. Was bleibt sind Schutt und ein Gefühl der Entrechtung.
Fast 80 Jahren lebten Roma in Sofia im Stadtteil Zaharna Fabrika. Nun stehen sie buchstäblich vor dem Nichts: Ihr Zuhause wurde abgerissen, was bleibt, ist haufenweise Schutt.30.04.2025 | 2:19 min
"Dort war mein Garten", sagt Anton Asenov, und zeigt in ein Trümmerfeld: Zaharna Fabrika ist das Roma-Viertel in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Am 15. April wurde es im Auftrag der Stadt Sofia innerhalb eines Tages abgerissen.
Wir konnten nichts mitnehmen. Sie gaben uns eine Stunde, aber nach 15 Minuten sagten sie: 'Los, los!'
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Anton Asenov, Bewohner
Asenov wurde, wie schon sein Vater, in Zaharna Fabrika geboren und lebte dort mit seiner Familie. Jetzt sucht er in den Trümmern nach den Überresten seines Besitzes. Im Hintergrund dröhnen die Bagger, beladen LKW um LKW mit den Resten von dutzenden Häusern. Asenov findet ein Glas Paprika, das die Maschinen verschont haben. Er hebt es triumphierend in die Luft. "Will jemand Paprika?" Die Nachbarn im Zelt nehmen dankend an, sie haben Hunger. Und Sorgen. Zum Glück ist Asenovs Sohn bei Verwandten untergekommen. Er selbst und seine Frau aber sind obdachlos und schlafen in ihrem Auto.
Die Roma sind mit geschätzt 10 bis 12 Millionen Menschen die größte ethnische Minderheit Europas. Sie leben in fast allen Ländern des Kontinents. Roma sind in Bulgarien die zweitgrößte ethnische Minderheit und machen zwischen vier bis neun Prozent der Bevölkerung aus. Viele bezeichnen sich jedoch als Türken, was die genaue Erfassung erschwert. In Deutschland leben etwa 80.000 bis 140.000 Roma.
Zu den Roma werden viele verschiedene Gruppen gezählt. Sie haben unterschiedliche Namen und eigene Geschichten, aber teilen sich gemeinsame Wurzeln in Nordindien. Eine dieser Gruppen sind die Sinti, die seit Jahrhunderten in Deutschland und Nachbarländern leben. Deshalb ist im deutschen Sprachraum die Bezeichnung "Sinti und Roma" üblich. Dort sind mit den Roma dann meist nur diejenigen gemeint, die seit vielen Jahrhunderten in Ost- und Südosteuropa leben. Anderswo wird oft die gesamte Minderheit nur Roma genannt.
Heimat auf öffentlichem Grund
Seit fast 80 Jahren leben Roma in Zaharna Fabrika. Viele der Häuser wurden ohne Genehmigung gebaut. Die Siedlung gilt als Problemzone: Anwohner beklagen immer wieder Kriminalität und Verschmutzung. Gleichzeitig sind die Roma in Bulgarien von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen: Viele sind arbeitslos und leben in Armut.
Die Stadt hatte schon jahrelang vor, das Viertel abzureißen; entsprechende Verfügungen lagen vor. Anfang April machte sie ernst. Die Begründung: Die Gebäude seien illegal, baufällig und gefährlich für die Bewohner.
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Galin Tsenkinski, stellvertretender Bürgermeister des Bezirks Ilinden, in dem Zaharna Fabrika liegt, verteidigt das Vorgehen: Die Menschen seien am Vortag gewarnt worden. 60 Personen seien betroffen und versorgt, andere hätten nicht kooperiert:
Wir haben uns um alle Menschen gekümmert und mit ihnen gesprochen. Den Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, wurde geholfen.
Videoaufnahmen aus der Siedlung zeigen ein anderes Bild: Zu sehen sind sichtlich geschockte Menschen, die eilig ihr Hab und Gut in Sicherheit bringen. Andere wirken wie gelähmt. Offenbar hatten diese Menschen sich nicht vorbereitet.
Stadt ignoriert Gerichtsbeschluss
Denn eigentlich war der Abriss verboten worden. Per Anordnung hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ihn am 11. April ausdrücklich untersagt - wegen fehlender Ausweichquartiere für die Betroffenen. Beeindrucken ließ sich die Stadt davon nicht: Das Urteil gelte nicht für gefährliche, vom Einsturz bedrohte Gebäude, heißt es aus dem Bezirksrathaus.
Stimme nicht, sagt Radoslav Stoyanov, der Co-Direktor des Bulgarischen Helsinki-Komitees, benannt nach der Menschenrechtsakte von Helsinki. Die Nichtregierungsorganisation engagiert sich für die Roma aus Zaharna Fabrica. Das Urteil sehe keine Ausnahmen vor. Außerdem hätten nicht 60, sondern mehr als 200 Menschen im Zuge des Abrisses ihr Zuhause verloren. Den Abriss bezeichnet er als klaren Rechtsbruch, als unmenschlich.
Dieser (Abriss-)Befehl wurde den Bewohnern der Gebäude nie zugestellt und sie hatten nie die Möglichkeit, ihn vor Gericht anzufechten.
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Radoslav Stoyanov, Co-Direktor des Bulgarischen Helsinki-Komitees
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Populismus als Motiv?
Stoyanov vermutet, dass die politisch Verantwortlichen das Gesetz aus rein populistischen Motiven brachen.
Anton Asenov hätte sich stattdessen Gleichbehandlung gewünscht: Den Versuch, das Viertel zu legalisieren. Für ihn und viele weitere Betroffene ist der Abriss nicht nur der Verlust des Zuhauses, sondern auch eine Herabwürdigung:
Wir wollen zahlen, wie die Bulgaren, wir wollen nicht so leben. Illegal.
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Anton Asenov, Bewohner
Asenovs Wunsch blieb ungehört. Stattdessen streiten sich nun die benachbarten Bezirke, wer die obdachlosen Roma aufnehmen soll. Da der Abriss offenbar mit niemandem abgestimmt war, fehlt es an alternativen Unterkünften. Freiwillig aufnehmen will die Roma, nach momentanem Stand, niemand.
Christian von Rechenberg ist Korrespondent im ZDF-Studio Wien. Er berichtet von dort aus den Ländern Südosteuropas.
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Interview
Quelle: dpa
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