Bundesweiter Vorlesetag:Vorlesen: Radikal analog und unverzichtbar
von Michael Kniess
Zwischen Feeds und Clips bietet Vorlesen etwas Einzigartiges: Es schafft echte Momente, stärkt Sprache und öffnet Welten. Warum Vorlesen heute wichtiger ist denn je.
Kinder für das Lesen begeistern: Das ist das Ziel des bundesweiten Vorlesetages. In der Uni Mainz wurde Kita-Kindern die "Raupe Nimmersatt" in mehreren Sprachen vorgelesen.
21.11.2025 | 0:22 minIn einer Welt, in der bereits Kinder im Sekundentakt durch Social-Media-Videos wischen, Sprachassistenten Märchen erzählen und die KI Bücher vorliest, wirkt das gemeinsame Vorlesen fast schon aus Zeit gefallen. Doch es ist mehr.
Gerade in dieser Welt aus kurzen Clips, schnellen Reizen und endlosen Feeds gewinnt das Vorlesen eine neue Bedeutung als zeitgemäßer Gegenentwurf zur Schnelllebigkeit des digitalen Alltags. Dass gemeinsame Geschichten für Kinder auch heute aber nicht einfach nur schön sind, betont der bundesweite Vorlesetag am 21. November.
Vorlesen fördert vielfältig
Denn Vorlesen fördert Sprache, Verstehen, Miteinander und legt den Grundstein fürs Lesenlernen. Das betont die Stiftung Lesen, die Deutschlands größtes Vorlesefest seit 2004 gemeinsam mit der Wochenzeitung "Die Zeit" und der Deutschen Bahn Stiftung auf den Weg gebracht hat. Die Idee: Kinder und Erwachsene für die Bedeutung des Vorlesens begeistern. Stiftung-Lesen-Geschäftsführer Jörg F. Maas sagt:
Digitale Medien prägen die Kindheit und das oft mit schnellen, kurzen Reizen.
Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen
Das Vorlesen setze dazu einen bewussten Gegenpol. Es schaffe Momente der Ruhe, fördere längere Aufmerksamkeit und stärke die emotionale Bindung.
Laura Trost, Leiterin Marketing und Kommunikation der Stiftung Lesen erklärt, wie wichtig es ist, Kindern vorzulesen und sie zum Lesen zu motivieren.
23.04.2024 | 5:23 minGleichzeitig sieht der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen in Smartphone und Tablet keine Feinde des Buchs: Wenn Eltern Tablets nutzen, um gemeinsam Geschichten zu entdecken, werde auch der Bildschirm zum "Tor zur Fantasie".
Wie wichtig diese elterliche Vermittlung ist, zeigt der Vorlesemonitor, eine Studie zum Vorleseverhalten in Deutschland, die jedes Jahr passend zum Vorlesetag von den daran Beteiligten durchgeführt wird.
Durch das Lesen beziehungsweise Vorlesen werden Wortschatz und Sprachfähigkeit sowie Fantasie, Einfühlungsvermögen und Gerechtigkeitssinn gefördert. Die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu verstehen und zu beurteilen, wird geschult, das Wissen erweitert und die Konzentrationsfähigkeit gesteigert. Laut Lese-Expertin Laura Trost ist das Lesen eine wichtige Kernkompetenz, die maßgeblich zum Erfolg in der Schule und im späteren Berufsleben beiträgt.
Das Zwischenmenschliche als Unterschied
"Wir wissen durch den Vorlesemonitor, dass jeder, der selbst wenige Vorleseerfahrungen gemacht hat, diese Tradition seltener weitergibt", sagt Ina Brendel-Kepser. Die Professorin für Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe hat einen ihrer Schwerpunkte in Lehre und Forschung in der Leseförderung.
Und wo Bücher im Haushalt fehlen, fehlen oft auch die ritualisierten Zugänge zu Geschichten.
Ina Brendel-Kepser, Professorin für Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik
Doch es geht um mehr. Denn Kinderbuch-Apps, Vorlesefunktionen oder Hörmedien sind per se nichts Neues und gehören längst zur medienkulturellen Praxis vieler Familien. Von Bibi-Blocksberg-Kassetten bis zu den ersten Hörbüchern haben akustische Erzählungen Kindheiten seit Jahrzehnten geprägt. Doch eines, so betonen sowohl Ina Brendel-Kepser als auch Jörg F. Maas, können weder KI-Stimmen noch professionelle Sprecher leisten: Das Zwischenmenschliche macht den Unterschied.
Unter dem Motto "Vorlesen spricht deine Sprache" wirbt der heutige Tag des Vorlesens bundesweit für das Potenzial von mehrsprachiger Erziehung.
21.11.2025 | 1:33 minVorlesen als früher Lernprozess
"Vor allem fehlt die Nähe, die so nur beim Vorlesen entsteht", betont Maas.
Kein Blickkontakt, kein gemeinsames Lachen, keine individuellen Erklärungen. Genau jene Elemente aber sorgen dafür, dass Kinder Sprache, Inhalte und Emotionen wirklich verarbeiten.
Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen
Denn Vorlesen ist kein reines Erzählritual. Es ist ein Dialog. Kinder unterbrechen, fragen nach, kommentieren. Diese kleinen Interaktionen sind, wie Ina Brendel-Kepser betont, der Kern gelungener Vorlesesituationen, die das Leben prägen.
Es gibt zahlreiche Aktionen, die junge Leser und Leserinnen für das Lesen begeistern sollen - zum Beispiel am Welttag des Buches.
23.04.2024 | 4:08 minDas Vorlesen werde zu einem frühen Akt eines Lernprozesses: Erwachsene holen Geschichten in die Erfahrungswelt des Kindes, verbinden Gelesenes mit dem Alltag, machen Unbekanntes verstehbar. "Studien zeigen, dass Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, über einen größeren Wortschatz verfügen, besser zuhören können und eine höhere intrinsische Lesemotivation entwickeln. Sie profitieren sprachlich, kognitiv, sozial und in ihrer Fantasie", betont Ina Brendel-Kepser.
Beim Vorlesen kann kein Algorithmus mithalten
Gleichzeitig erfüllen Vorleserituale Bedürfnisse, die in digitalen Umgebungen zunehmend unter Druck geraten. Sie sorgen für Entschleunigung sowie emotionale Geborgenheit und schaffen echte Verbindungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Vorlesen ist daher weit mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Es gilt als eine grundlegende Investition in die Zukunft.
Kinder haben ein Recht auf Vorlesen.
Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen
Es lege den Grundstein für das Lesenlernen, mache kreativ, wecke Neugier und stärke das Selbstbewusstsein. Und es eröffne Chancen - unabhängig von Herkunft oder Bildungsstatus.
Vielleicht ist Vorlesen deshalb heute moderner denn je: Weil es etwas bietet, das keine KI und kein Algorithmus liefern kann: Eine gemeinsame Reise in Geschichten, die in den Köpfen der Kinder weiterwachsen.
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