Trauma-Experte zu Amoklauf: Überlebende fühlen sich schuldig
Interview
Trauma-Experte über Amokläufe:Graz: Überlebende fühlen sich schuldig
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Wie geht es Betroffenen nach einem Amoklauf wie in Graz und wie können sie so ein Ereignis verarbeiten? Traumaexperte Christian Lüdke spricht von einer "Zuschauerschuld".
Laut den Ermittlern habe der Amokläufer bis auf eine Ausnahme keine näheren Beziehungen zu seinen Opfern gehabt. Die Tat sei bis ins Detail geplant gewesen. 12.06.2025 | 1:34 min
ZDFheute: Wie gehen Betroffene damit um, wenn sie einen Amoklauf erlebt haben?
Christian Lüdke: Die Betroffenen stehen immer unter einem starken Schock. Ein grundlegendes Sicherheitsgefühl ist komplett erschüttert worden. Vieles ist nicht mehr so, wie es vorher einmal war.
Da ist es wichtig, dass die Betroffenen in der akuten Phase viel Ruhe und Abstand zu dem Erlebten bekommen. Damit sie sich ausruhen können und die eigenen Selbstheilungskräfte aktiviert werden können.
Man sollte sie auf keinen Fall zu viel konfrontieren, weil Konfrontation mit dem Erlebten bedeutet eine Retraumatisierung.
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Eltern oder Angehörige sollten keine eigenen Emotionen zeigen. Weder Wut auf den Täter noch Trauer, sondern sie sollten ganz ruhig bleiben und die Kinder beruhigen.
Quelle: ZDF
... ist Traumaexperte und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Seit vielen Jahren behandelt er Opfer von Amokläufen, Terroranschlägen oder anderen Verbrechen.
ZDFheute: Was geht Betroffenen nach einem Amoklauf im Kopf herum?
Lüdke: Die Betroffenen haben häufig zunächst das Gefühl, in einem falschen Film zu sein. Das zu realisieren dauert immer eine ganze Weile. Sie bekommen durch das Erlebte einen Schockschaden. Und im Nachhinein stellen sie sich dann sehr oft die Frage, hätten wir das eher erkennen können? Habe ich mich richtig verhalten?
In manchen Fällen gibt es Schuldgefühle, eine Überlebensschuld oder eine Zuschauerschuld. Warum habe ich das überlebt und ein anderer Jugendlicher vielleicht nicht? Oder hätte ich das Ganze irgendwie doch verhindern können?
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ZDFheute: Wie wichtig ist eine psychologische Betreuung nach einem Amoklauf?
Lüdke: Die Betroffenen befinden sich in einer seelischen Ausnahmesituation. Es ist wichtig, dass sie stabile Menschen in ihrer Nähe haben, die ihnen stellvertretend Hoffnung und Zuversicht vermitteln und immer wieder sagen, wir schaffen das gemeinsam.
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Die psychologische Notfallhilfe erklärt den Betroffenen, dass die Symptome und Reaktionen, die sie haben, normale Reaktionen auf ein sehr extremes Ereignis sind. Das heißt nicht, dass sie krank sind.
Es ist vollkommen normal, immer wieder ein Kopfkino und Ängste zu haben und nicht schlafen zu können. Man schaut außerdem ob Betroffene sich aus eigener Kraft erholen oder ob sie eine längerfristige Hilfe brauchen.
ZDFheute: Wenn man sieht, wie Menschen getötet werden, wie kann man damit weiterleben?
Lüdke: Menschen, die unmittelbar mitbekommen haben, wie ein Mensch getötet wurde, oder andere Überlebende, haben dem Tod buchstäblich ins Auge geblickt und dann ist nichts mehr so, wie es vorher einmal war.
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Das grundlegende Sicherheitsgefühl wurde massiv erschüttert. Ängste, Depressionen und Unsicherheiten können die Folgen sein. Und es dauert manchmal Jahre, das Ganze verarbeiten zu können.
Ihr Leben wird anders sein, als wenn sie es nicht erlebt hätten. Aber das Leben, das sie später führen werden, ist nicht schlechter. Es ist einfach nur anders.
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ZDFheute: Wie können Schüler wieder in die Schule gehen, ohne immer an das Erlebte zu denken?
Lüdke: Man kann so ein Trauma nur gemeinsam verarbeiten, denn man darf nicht vergessen, dass die Schule auch ein Tatort ist, wo die Schülerinnen und Schüler überall an diese schreckliche Tat erinnert werden.
Da ist es dann zu überlegen, ob man in Teilen die Schule möglicherweise umgestalten kann, also nicht nur farblich, sondern auch Räume umgestaltet. Und dadurch einen neuen emotionalen Zugang ermöglicht.
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ZDFheute: Kann man sich auf einen möglichen Amoklauf vorbereiten?
Lüdke: Prävention ist enorm wichtig. Da kann man nicht früh genug anfangen. Und Prävention bedeutet, sich dieses Unvorstellbare vorzustellen. Dass man sich auf solche möglichen Szenarien vorbereitet. Es können Übungen und Probealarme durchgeführt werden und jeder einzelne kann für sich überlegen, wie würde ich in einer solchen Situation reagieren.
Das kann man auch schon mit Kindern trainieren und üben, häufig in Rollenspielen, in denen man ihnen dann vermittelt, was sie in solchen kritischen oder Gefahrensituationen tun können.
Denn je mehr sie darüber wissen, desto mehr wird das Verhalten zu einem Automatismus, was sie dann in solchen Stresssituationen abrufen können. Es macht die Mädchen und Jungs handlungsfähig. Und das ist das Ziel von Prävention.