Terra X - die Wissens-Kolumne:Klauen für die Wissenschaft?
von Jens Foell
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Die meisten Forschenden sind sich einig, dass der wissenschaftliche Publikationsbetrieb nicht so weitergehen kann wie bisher. Liegt die einzige Lösung dafür in der Illegalität?
Wissenschaftliche Studien nutzen idealerweise allen. Wenn wir mehr über die Umwelt, das Klima oder neue Krankheitserreger erfahren, dann hat jeder von uns etwas davon. Aber natürlich nur, wenn auch möglichst alle auf die entsprechenden Studien zugreifen können.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Einer aktuellen Umfrage zufolge finden 80 Prozent der Europäer*innen, dass wissenschaftliche Ergebnisse kostenlos zugänglich sein sollten. Aber das ist derzeit nur eine Utopie. Traditionell hat man wissenschaftliche Artikel vor allem in Universitätsbibliotheken gefunden, die Jahr für Jahr hohe Beträge für Abonnements von Fachjournalen aufwenden. Gehört man keiner Uni oder Hochschule an, kann man viele Studien nur gegen Gebühr lesen oder herunterladen.
Raubtier-Journale nutzen offene Wissenschaft aus
Derzeit versuchen Forschende, Aktivist*innen und Geldgeber dieses System auf den Kopf zu stellen, indem jene Gebühren bereits vor Publikation bezahlt werden, damit hinterher alle Welt frei auf Studienergebnisse zugreifen kann. Diese Open Access Bewegung ist zwar stark, wird aber von Problemen geplagt. Allen voran haben sich sogenannte Raubtier-Journale gebildet, die den Wegfall des alten Systems ausnutzen, um Studien mit unzureichender Qualität und Relevanz zu veröffentlichen und schnelles Geld zu verdienen.
Steuerskandal! Wie Wissenschaft hinter Paywalls verschwindet - obwohl sie längst bezahlt wurden. MAITHINK X klärt auf.23.03.2025 | 30:15 min
Sci-Hub: Forschungsartikel for free
Was ist also die Lösung? Eine Idee kam von Alexandra Elbakyan, gebürtig aus Kasachstan, aber zeitweise Studentin in Freiburg. Sie entwickelte Software, die nach eigener Angabe legale Passwörter für diverse Universitätsbibliotheken speichert und auf Anfrage direkt einsetzt, um an Forschungsartikel zu kommen. Wurde ein Artikel gefunden, wird er direkt in einer eigenen Datenbank gespeichert, damit der nächste Zugriff schneller geht.
Manchmal spricht das ganze Internet über eine Studie, obwohl niemand die echten Daten gesehen hat. Vorschnelle Interpretationen schaden allen, sogar der Wissenschaft selbst.
von Jens Foell
Kolumne
Auf diese Art haben sich seit Gründung dieses Projekts vor über 10 Jahren fast 90 Millionen Dokumente angesammelt. Elbakyan hat ihrem Unterfangen den Namen Sci-Hub gegeben und es ist extrem erfolgreich: Bereits 2016 veröffentlichte das Fachjournal Science eine Analyse über Millionen Downloads durch Forschende und Interessierte in aller Welt, damals vor allem aus dem Iran, China und Indien.
Legal, illegal, ganz egal?
Aber ist das denn legal? Die Verlage, bei denen üblicherweise das Urheberrecht über die wissenschaftlichen Arbeiten liegt, sagen nein. Und die relevanten Gerichte scheinen zuzustimmen: 2017 wurde einem großen Verlag Schadenersatz in Millionenhöhe zugesprochen, selbst wenn damals schon Zweifel bestanden, ob dieses Geld wirklich einzutreiben sei. Wie viele webbasierte Projekte ist Sci-Hub juristisch nur schwer greifbar und wechselt im Zweifelsfall einfach das Land, in welchem die Server angesiedelt sind.
Was, wenn Entdeckungen schlichtweg geklaut wurden? MAITHINK X zeigt - das Leugnen wissenschaftlicher Errungenschaften hat Geschichte.13.04.2025 | 30:16 min
Zumindest in Deutschland wurde daher zu anderen Mitteln gegriffen: Von den größten Netzbetreibern aus ist Sci-Hub seit einem Jahr nicht mehr zu erreichen. So ein Block wird üblicherweise nur bei Webseiten ausgeführt, die illegale Downloads von Filmen oder Serien anbieten.
Zugang statt Profit: Warum Sci-Hub für Forschende oft kein Nachteil ist
Für die Forschenden selbst hat Sci-Hub zunächst keinen Nachteil: Denn selbst wenn sie die Autor*innen der Forschungsartikel sind, werden sie am Profit der Verlage nicht beteiligt. Daher verwundert es nicht allzu sehr, wenn auch Wissenschaftler*innen selbst zu Sci-Hub greifen, um Paywalls zu umgehen - zum Beispiel, wenn ihr Institut eine bestimmte Zeitschrift nicht abonniert hat.
Wissenschaft boomt – aber warum kämpfen viele Forschende, vor allem Frauen, mit schlechten Arbeitsbedingungen, Machtmissbrauch und massivem Druck? Wie das System Wissenschaft wirklich tickt, warum Grundlagenforschung so wichtig ist und welche Hürden junge Talente überwinden müssen.03.04.2022 | 30:42 min
Zwischen Diebstahl und Nobelpreis
Wie sieht Elbakyan selbst ihre Rolle in dieser Sache? Sie wurde schon als "Robin Hood" bezeichnet, die von den Reichen stiehlt und es den Armen schenkt. Aber diese Bezeichnung lehnt sie ab, denn sie versteht sich nicht als Diebin. Durch ihre Arbeit, die Wissenschaft voranzubringen, sieht sie sich selbst eher als Kandidatin für den Nobelpreis.
Unabhängig davon, welche Position man bei diesem Thema einnimmt: Die breite Verwendung von Sci-Hub macht deutlich, dass im wissenschaftlichen Publikationssystem etwas grundlegend schiefläuft . Eine Lösung, auf die sich alle einigen können, ist weiterhin nicht in Sicht.
Wissenschaftliche Arbeiten sind immer weniger von Publikationen in wissenschaftlichen Magazinen abhängig. Auch ihre Verfasser suchen sich ihre eigenen Wege zu den Empfängern und entziehen sich damit den üblichen Prüfprozessen des Wissenschaftsapparats.29.08.2024 | 57:49 min
... ist promovierter Neuropsychologe, Bestsellerautor und Redakteur bei MAITHINK X. Seine Leidenschaft gilt der Vermittlung von Wissenschaft durch Forschende. Zu diesem Zweck gründete er den beliebten Twitter-Account "Real Scientists DE" und gibt regelmäßig Seminare und Vorträge zum Thema.
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