NANO & Terra X: Wissens-Kolumne:Warum es "Hochfunktionale Depression" eigentlich nicht gibt
von Eva-Lotta Brakemeier
Außen leistungsfähig, innen leer: Hinter "Hochfunktionaler Depression" steckt ein meist unbekanntes Missverständnis, das mehr Menschen betrifft als viele denken.
Was hinter dem Begriff steckt
"Hochfunktionale Depression" (HFD) ist kein offizieller Diagnosebegriff, beschreibt aber ein reales Muster: Menschen erfüllen Pflichten, leisten viel, wirken stabil - und leiden zugleich unter Antriebslosigkeit, der Unfähigkeit, Freude zu empfinden (auch Anhedonie genannt), Schlaf- und Konzentrationsproblemen und weiteren Symptomen.
In der Wissens-Kolumne von NANO und Terra X auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpertinnen und Gastexperten jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Weil äußerlich jedoch nichts "zusammenbricht", bleibt das Leiden oft unentdeckt - und Hilfe kommt spät. Fachlich ordnen wir HFD bestehenden Diagnosen zu, etwa einer depressiven Episode oder einer Persistierenden Depressiven Störung/Dysthymie. Entscheidend ist jedoch nicht das "Etikett", sondern: früh verstehen, erkennen und rechtzeitig handeln.
Was das Leiden von außen unsichtbar macht
Viele Betroffene tragen perfektionistische Standards und den meist sehr früh im Leben erlernten Glaubenssatz "Ich muss funktionieren". Nach außen erscheinen sie leistungsfähig, doch Freude verblasst. Hinweise sind innere Leere, Reizbarkeit, Rückzug trotz Präsenz und fehlende positive Gefühle trotz Erfolgen. Weil sie "gesund wirken", unterschätzen Umfeld und Betroffene selbst die psychischen Belastungen - oft so lange, bis körperliche Beschwerden oder akute Krisen die Überforderung sichtbar machen.
Wenn Sie selbst betroffen sind oder jemanden kennen, der Hilfe braucht, suchen Sie Unterstützung. Es gibt Hilfe, es gibt Wege aus der Depression.
Erste Anlaufstellen zusammengestellt vom Aktionsbündnis für seelische Gesundheit
Beratungs- und Notfallkontakte - Aktionsbündnis Seelische Gesundheit
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 erreichbar. Oder per Chat und E-Mail: www.telefonseelsorge.de
Krisendienst Psychiatrie: Tel. 0800 6553000
Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: 0800/33 44 5 33 (kostenfrei)
Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention
Depression: Infos und Hilfe - Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Deutsche Depressionshilfe: Rat für Angehörige
Deutsche Depressionsliga
https://depressionsliga.de/
Nummer gegen Kummer: 116 111
U25 Helpmail
Online-Beratung durch geschulte Ehrenamtliche – anonym und kostenlos – für Menschen unter 25 Jahren, die in einer Krise stecken und Suizidgedanken haben.
https://www.u25-deutschland.de/
Nicht im Diagnosesystem - und doch relevant
Klassifikationen beschreiben Symptome und Schweregrade, nicht soziale Maskierung. HFD ist ein Erscheinungsbild bekannter Störungen: Die Kriterien für eine depressive Episode (zum Beispiel gedrückte Stimmung, deutlich verminderte Freude, Antriebslosigkeit plus weitere Symptome für länger als zwei Wochen) oder für die Persistierende Depressive Störung (ab einer Dauer von zwei Jahren) können erfüllt sein - trotz äußerlicher Leistungsfähigkeit. Darum braucht es für die HFD Sensibilisierung in Diagnostik und Versorgung.
Claudia K. kämpft jahrelang mit einer Depression, die niemand sieht. Trotz ständiger Erschöpfung funktioniert sie weiter. Schließlich sucht sie Hilfe und begibt sich in Behandlung.
15.10.2025 | 6:00 minWoran nahe Bezugspersonen Betroffene erkennen
Warnsignale sind chronische Erschöpfung, Schlafstörungen, Grübeln, Selbstabwertung, Interessenverlust und innerer Rückzug - besonders, wenn Erfolge "nichts mehr bedeuten". Im Gespräch helfen empathische offene Fragen nach dem inneren Erleben: "Wie fühlt sich Dein Alltag für Dich an?" Kurze, validierte Selbstauskünfte (zum Beispiel mit Hilfe von Apps) und regelmäßige Nachfragen machen das Unsichtbare sichtbar. Wichtig: Auch "funktionierende" Menschen haben Anspruch auf Hilfe - bevor nichts mehr geht.
Warum frühe Hilfe zählt
Unbehandelt drohen Chronifizierung, somatische Begleiterkrankungen und riskante Bewältigungsversuche. Bewährt hat sich Psychotherapie - wie die kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Verfahren, systemische Therapie oder schema-, achtsamkeits- und selbstmitgefühlsbasierte Ansätze. Insbesondere bei schwerer Ausprägung können Antidepressiva ergänzen - individuell und leitliniengerecht. Ziel ist nicht unbedingt "weniger Leistung", sondern wieder mit mehr Freude leistungsfähig durch weniger inneren Druck.
Leistung trotz innerer Leere: hochfunktionale Depression – was steckt dahinter? Mit dem ehemaligen Radsportler Jan Ullrich ist Leon Windscheid den vielen Gesichtern der Depression auf der Spur.
06.10.2025 | 43:32 minMit Therapiemethode an die Wurzeln gehen
CBASP (Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy) setzt als eine integrative Therapiemethode dort an, wo die Wurzeln des hochfunktionalen "Durchhaltens" liegen: bei frühen Beziehungserfahrungen, die Prägungen hinterlassen. Viele Betroffene haben Anerkennung in der Kindheit und Jugend primär über Leistung erhalten; Gefühle und Bedürfnisse blieben eher zweitrangig. CBASP macht diese Lernbiografie verstehbar und hilft, die Prägungen im aktuellen Leben zu überschreiben beziehungsweise zu überwinden.
Was jeder heute tun kann
- Selbstcheck: Wenn alles läuft, aber man innen nichts fühlt, Hilfe suchen.
- Entstigmatisieren: Nach dem Erleben fragen, nicht nur nach dem Output.
- Hilfewege kennen: Hausärzt:in, Psychotherapeut:in, Krisendienste.
- Digital klug nutzen: Tagebuch-Apps können unterstützen; bei Verschlechterung gilt: besser mit menschlichem Gegenüber sprechen.
Früh erkennen heißt rechtzeitig helfen
"Hochfunktionale Depression" ist die leise Schwester der sichtbaren Depression. Sie versteckt sich hinter Terminkalendern und To-do-Listen - und verdient genau deshalb Aufmerksamkeit. Wer rechtzeitig hinschaut, verhindert, dass Leistungsfähigkeit zur Last wird. Depressionen sind behandelbar - egal ob hochfunktional oder nicht.
Was bringt die Psyche aus dem Gleichgewicht? Wie entstehen Depressionen und was kann man dagegen tun? Experten aus Medizin, Psychologie und Neurowissenschaften eröffnen neue Wege zur Behandlung.
06.10.2025 | 28:43 min... ist Musikerin, Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin. Ihr Musikstudium absolvierte sie in Weimar und ihr Psychologiestudium an der Freien Universität Berlin. Danach folgte die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin bei der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) sowie die Promotion an der Humboldt Universität Berlin. Sie ist Therapeutin, Supervisorin und Trainerin für IPT, CBASP und WBT. Seit 2019 ist sie Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP) der Universität Greifswald sowie Initiatorin und Vize-Präsidentin des Vereins "Gemeinsam für psychische Gesundheit e.V.". Im Februar 2024 wurde sie zudem Mitglied im Wissenschaftsrat der Bundesregierung und seit September 2024 ist Eva-Lotta Brakemeier Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs).
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