Memo-Studie: Gefährliche Lücken im historischen Wissen
Interview
Studie zum Geschichtsbewusstsein:Gefährliche Lücken im historischen Wissen
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80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg steht die Erinnerungskultur unter Druck. Das ist das Fazit der Memo-Studie. Ein Gespräch über (fehlendes) kritisches Geschichtsbewusstsein.
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Quelle: dpa
ZDFheute: Was war ausschlaggebend, sich damit auseinanderzusetzen, wie es um das kritische Geschichtsbewusstsein und die Erinnerungskultur in Deutschland bestellt ist?
Jonas Rees: Gerade in Deutschland ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte essenziell, um Demokratie, Menschenrechte und gesellschaftlichen Zusammenhalt wertzuschätzen und zu stärken.
Wir müssen wissen, wo wir herkommen, um zu verstehen, wo wir heute stehen und was uns ausmacht. Ohne lebendige Erinnerung verlieren wir uns selbst.
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Jonas Rees
Das macht Erinnerungskultur zu einem wichtigen Pfeiler politischer Bildung, der in Zeiten rechtspopulistischer Angriffe auf die Demokratie umso wichtiger ist.
Quelle: Uni Bielefeld, Sarah Jonek
... hat die Gedenkanstoß Memo-Studie gemeinsam mit seinem Team geleitet. Er ist Professor für Politische Psychologie am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt der Universität Bielefeld. Seine aktuellen Forschungsthemen sind unter anderem sozialpsychologische Aspekte von Erinnerungskultur, gesellschaftlichem Wandel und Zusammenhalt.
ZDFheute: Wie steht es um das kritische Geschichtsbewusstsein in Deutschland?
Rees: Das Interesse an Geschichte ist weiterhin hoch, knapp die Hälfte der Befragten gibt an, sich eher stark oder sehr stark dafür zu interessieren. Es tun sich aber auch systematische Wissenslücken auf. Nur ein Drittel kann beispielsweise erklären, was im NS-Kontext unter dem Begriff "Euthanasie" zu verstehen ist. Wir haben es an vielen Stellen nur noch mit gefühltem historischem Wissen zu tun, das nicht mit tatsächlichem Faktenwissen hinterlegt ist.
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ZDFheute: An welchen Stellen lässt sich das festmachen?
Rees: Neben den Lücken im historischen Wissen tun sich auch regelrechte Verzerrungen auf. So nimmt zwar gut ein Fünftel der Befragten an, dass der Wohlstand vieler deutscher Familien bis heute auf Verbrechen aus der NS-Zeit basiere. Mit Blick auf die eigene Familie stimmen dieser Aussage aber nur noch drei Prozent zu.
Ein ähnliches Muster sehen wir mit Blick auf deutsche Unternehmen. So werden die bis heute fortdauernden Kontinuitäten der NS-Verbrechen zu etwas Abstraktem, Unpersönlichem, das mit der eigenen Familie oder dem eigenen Arbeitgeber nichts zu tun hat.
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ZDFheute: Wie verbreitet sind antisemitische, rechtspopulistische und geschichtsrevisionistische Positionen?
Rees: Wir müssen feststellen, dass antisemitische, rechtspopulistische und geschichtsrevisionistische Haltungen endgültig wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind.
Etwas mehr als ein Viertel der Befragten stimmt beispielsweise der Aussage zu, Jüdinnen und Juden würden die Erinnerung an den Holocaust zu ihrem persönlichen Vorteil ausnutzen.
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Zum ersten Mal seit Beginn der Studienreihe stimmt eine zahlenmäßige Mehrheit der Befragten der Forderung nach einem "Schlussstrich" unter die NS-Zeit zu. Antisemitismus ist dabei kein isoliertes Phänomen am Rande der Gesellschaft, sondern findet sich in allen Bevölkerungsschichten und gesellschaftlichen Gruppen.
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ZDFheute: Welche Schlussfolgerungen lassen sich für die Erinnerungsarbeit ziehen?
Rees: Mehr als 40 Prozent der Befragten fanden es zwar wichtig, die Erinnerung an die NS-Verbrechen lebendig zu halten. Weniger als ein Viertel wünschten sich aber, dass in Deutschland auch mehr dafür getan wird. Und noch weniger, nämlich nur knapp 12 Prozent, wären bereit, mehr Steuergelder für das Erinnern aufzuwenden.
Wir müssen als Gesellschaft eine Antwort auf die Frage finden, wie wichtig uns die Erinnerung an die NS-Verbrechen heute, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wirklich ist. Wenn wir die eigenen Ansprüche an eine lebendige Auseinandersetzung mit unserer NS-Vergangenheit ernst meinen, müssen wir auch bereit sein, etwas dafür zu tun.
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ZDFheute: Was ist aus Ihrer Sicht die erschreckendste Erkenntnis aus der Studie, welche ermutigt am meisten?
Rees: Die Ergebnisse zur Verbreitung und Normalisierung von Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus sollten uns als Gesellschaft alarmieren.
Was mir Hoffnung macht, ist der Befund, dass über ein Drittel der Befragten angab, selbst etwas tun zu können, um an die NS-Zeit zu erinnern.
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Nur knapp acht Prozent der Befragten engagierten sich aber auch tatsächlich. Diese Diskrepanz lässt sich optimistisch so interpretieren, dass ein bedeutsamer Anteil, insbesondere unter den jungen Menschen in Deutschland, prinzipiell bereitsteht, sich für Erinnerung und Demokratie einzusetzen. Als Gesellschaft brauchen wir sie heute vielleicht mehr denn je.
Das Interview führte Michael Kniess.
Für die Gedenkanstoß Memo-Studie untersuchten die Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) und das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld in einer repräsentativen Online-Befragung das kritische Geschichtsbewusstsein in Deutschland. Die repräsentativen Memo-Studien werden seit sieben Jahren durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie:
Das Interesse an Geschichte ist weiterhin hoch: Knapp die Hälfte der Befragten (42,8 Prozent) gab an, sich eher stark oder sehr stark dafür zu interessieren.
Wissen über die NS-Verbrechen nimmt ab: Nur ein Drittel konnte erklären, was im NS-Kontext unter dem Begriff "Euthanasie" zu verstehen ist. Nur knapp jeder Zehnte konnte eine realistische Einschätzung zur Zahl der Zwangsarbeiter im Deutschen Reich geben. Ein großer Teil der Befragten (85 Prozent) kannte kein Projekt, das sich der Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten widmet.
Wenig Bewusstsein über Verstrickungen in Familie, Unternehmen und im Wohnort: Über die Hälfte der Befragten (63,3 Prozent) gab an, wenig oder überhaupt nichts über die NS-Verbrechen in ihrem Wohnort zu wissen. Knapp ein Fünftel der Befragten (19,3 Prozent) stimmte der Aussage zu, der Wohlstand vieler Familien in Deutschland basiere bis heute auf Verbrechen aus der NS-Zeit. Mit Blick auf die eigene Familie bejahten dies weniger als 3 Prozent. Ähnlich verhielt es sich bei dem Wissen über Unternehmen: Während mehr als ein Viertel (27,2 Prozent) angab, der Wohlstand vieler Unternehmen in Deutschland gründe auf Verbrechen in der NS-Zeit, glaubten dies von dem Unternehmen, in dem sie selbst beschäftigt waren, nur 8 Prozent.
Antisemitismus in allen Bevölkerungsschichten und gesellschaftlichen Gruppen hoch: Gut ein Viertel der Befragten (25,9 Prozent) waren der Auffassung, Juden nutzten die Erinnerung an den Holocaust zu ihrem persönlichen Vorteil aus. Zum ersten Mal seit Beginn der Memo-Studienreihe stimmte eine Mehrheit der Befragten (38,1Prozent) der Forderung nach einem "Schlussstrich" unter die NS-Zeit zu.
Mehr als die Hälfte der Befragten (63,8 Prozent) sehen im Rechtsextremismus eine große oder sehr große Gefahr für die deutsche Gesellschaft.