Island im Winterwahlkampf:Wahlkampf zwischen Kuhstall und KI
von Henner Hebestreit
Eine KI, die mit den Wählern kommuniziert. Politische Gegner, die auf TikTok setzen. Ein Vulkan, der Lava speit. So geht Wahlkampf in Island.
A man casts his vote at a polling station on the Island of Gola as voters go to polls the for the 2024 General Election in Ireland, Friday, Nov. 29, 2024. (AP Photo/Peter Morrison)
Quelle: APIslands Wahlkämpfer haben, was ihre deutschen Kollegen fürchten: einen beinharten Winterwahlkampf zwischen Feuer und Eis. Bei Tagestemperaturen unter dem Gefrierpunkt brauchen sie in der Hauptstadt Reykjavik nur vor die Tür zu gehen, um den Himmel leuchtend orange glühen zu sehen, von dem Vulkan vor den Toren der Stadt. Bereits zum siebten Mal innerhalb eines Jahres speit er ungeheure Mengen Lava. Die Regierung ist im Krisenmodus, weil die glühend heiße, flüssige Masse aus dem Erdinneren wichtige Straßen, ein Kraftwerk und das berühmte Geothermalbad "Blaue Lagune" bedroht.
Dabei ist Ministerpräsident Bjarni Benediktsson nur noch geschäftsführend im Amt - mit seiner Dreiparteienkoalition ist er an Fragen der Migration- und Wirtschaftspolitik gescheitert und kämpft im Wahlkampf um jede Stimme - auch mit Künstlicher Intelligenz.
TikTok: Das Mittel zur Macht
Wir treffen Bjarni an einem Samstagabend im größten Kuhstall Islands. Er schüttelt Hände, klopft Schultern und lässt sich bereitwillig auf Selfies mit seinen Anhängern ein - doch große Siegesgewissheit strahlt er nicht aus. "Es war immer so hier, dass man Koalitionen bilden muss, um Regierungen zu bilden und wir spüren jetzt die Unzufriedenheit, die dazu geführt hat, dass wir jetzt zur Wahl gehen", sagt er im ZDF-Interview.
Mit seinem klassischen Wahlkampf wirkt er abgehängt. Auch auf Island wissen andere, wie es besser geht: Mit geschickter Arbeit in den Sozialen Medien hatte Halla Tomasdottir im Sommer völlig überraschend die Präsidentschaftswahl gewonnen und der beliebten Katrin Jakobsdottir den schon sicher geglaubten Wahlsieg auf den letzten Metern genommen. Das aktuelle Mittel zur Macht ist wohl die chinesische Plattform TikTok - doch darauf dürfen Regierungsmitglieder in Island nicht aktiv sein, hören wir von einer prominenten Parteifreundin Bjarnis. Und so gehen sie in seiner Machtzentrale mit einem neuen Instrument in die finale Phase des Wahlkampfs: Künstlicher Intelligenz.
Mithilfe Künstlicher Intelligenz wird versucht, Wahlen zu beeinflussen. Im Wahljahr 2024 wächst die Gefahr für die Demokratie. Wer steckt hinter manipulierten Bildern und Stimmen?
08.05.2024 | 29:14 minIsland: Eine KI spricht mit Wählern
"Bjarni-AI antwortet auf Fragen aus der potentiellen Wählerschaft genauso, wie der Ministerpräsident es selbst tun würde", sagt Hersir Aron Olafsson, der mit seinem Team die Künstliche Intelligenz mit 4.000 Reden und Beiträgen aus sozialen Medien des Ministerpräsidenten trainiert hat. In den ersten Tagen gab es schon über 12.000 Zugriffe auf "Bjarni.ai", was viel ist, für das dünn besiedelte Island.
Wenn zum Beispiel Bürger fragen, wie der Ministerpräsident die Zukunft des von den ständigen Vulkanausbrüchen bedrohten Ortes Grindavik sieht, erfahren sie auf Bjarni.AI, dass vor Grindavik eine strahlende Zukunft liege, man den Wiederaufbau weiter unterstützen werde und die Isländer eine voll funktionsfähige Stadt voller Leben sehen werde. Während des jüngsten Vulkanausbruches mussten die Bewohner ihre Häuser einmal mehr verlassen, aber vielleicht spenden solche Einschätzungen ja auch Trost.
Politologe Olafur Hardarson ist skeptisch: "Keine Ahnung, ob es irgendeine Bedeutung hat. Bis ich nichts anderes festgestellt habe, sage ich: Das hat überhaupt keinen Einfluss auf die Wahl."
Wahlkampf im Kuhstall
Tatsächlich sind für die Strategen um den wahlkämpfenden Ministerpräsidenten die Fragen an Bjarni-AI noch viel interessanter als die generierten Antworten: "Es gibt uns die Möglichkeit herauszufinden, was die Wähler am meisten interessiert: Gesundheitspolitik, Wohnraum oder Arbeitsplätze?", sagt Hersir Aron Olafsson. Damit könne man sich im Wahlkampf entsprechend aufstellen.
Ministerpräsident Benediktsson traut der KI nicht so ganz, setzt lieber auf Wahlkampf im Kuhstall: "Die Leute können nie sicher sein, dass Antworten von Künstlicher Intelligenz echt sind."
Größte Aussicht auf den Wahlsieg werden Islands Sozialdemokraten eingeräumt - was den deutschen Genossen Hoffnung machen könnte.
Henner Hebestreit ist Leiter des ZDF-Studios für Skandinavien.
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