Goethes Werther wird 250:Skandal-Briefroman mit Europaerfolg
Vor 250 Jahren löste ein Briefroman ein Fieber aus. "Die Leiden des jungen Werther" von Johann Wolfgang von Goethe sorgten für den europaweiten Erfolg und lösten einen Skandal aus.
Gerade einmal 25 Jahre jung war Goethe als er den gemeinhin als ersten "Besteller" bekannten Roman veröffentlichte. Die Tragik des Romans begeisterte damals wie heute die Leser.
Quelle: dpaMan mag darüber lächeln, wenn Werther und Lotte eine Gewitterlandschaft betrachten, beide an denselben geschätzten Dichter denken - und bei der Nennung von dessen Namen ("Klopstock!") beinah in Tränen ausbrechen. Andererseits: Bis heute bewegt es Menschen, wenn Vertraute - oder solche, die es werden könnten - eine ähnliche Assoziation haben wie man selbst, wenn man gemeinsame Vorlieben entdeckt, gar Sätze für den anderen vollendet. Nicht nur insofern bleiben "Die Leiden des jungen Werther", erschienen vor 250 Jahren, bis heute aktuell.
Veröffentlicht am 29. September 1774, war der Roman sofort ein Erfolg - und zwar in ganz Europa. Der junge Goethe, dessen 275. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, war bis dahin vor allem in deutschen Landen bekannt; dies änderte sich nun. Sein "Werther", in wenigen Monaten verfasst, prägte stehende Redewendungen - vom ersten Satz an: "Wie froh bin ich, dass ich weg bin!" Bis hin zu melodramatisch-stilprägenden Ausdrücken wie: "Ach, diese Lücke!"
Goethes Briefroman löste ein "Fieber" aus
Vordergründig erzählt der Briefroman von einer unerfüllten Liebe. Der Titelheld berichtet seinem Freund Wilhelm von der von ihm verehrten Lotte; das Buch endet mit Werthers Suizid. Manche Elemente entnahm Goethe eigenen Erinnerungen, vieles aus dem realen Lebensweg seines Freundes Carl Wilhelm Jerusalem und den Dokumenten über dessen Suizid. Dementsprechend sind die Vor- und Nachbemerkung des - ebenfalls fiktiven - Herausgebers, die Werthers Briefe einrahmen, in einem sachlich-amtlichen Ton gehalten. Sie stehen im Kontrast zur fiebernden, bildhaften Sprache der Hauptfigur.
Die gesellschaftlichen Folgen waren immens: Lesesucht, "Werther-Fieber", rund ein Dutzend belegte Selbsttötungen - wobei sich Gerüchte über eine regelrechte "Welle" von Suiziden bis heute halten. Vom "ersten Medienskandal der Moderne" schreibt der Literaturwissenschaftler Martin Andree in seinem Buch "Wenn Texte töten".
Schnell Hilfe finden
Es gibt Hilfe, auch in scheinbar ausweglosen Situationen. "Ich weiß nicht mehr weiter", "Ich kann nicht mehr": Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie unbedingt, mit jemandem darüber zu sprechen - egal, ob Familie, Freunde oder Menschen, die sich auf diese Themen spezialisiert haben.
Schnelle Hilfe: Telefonseelsorge (0800 111 0 111), Nummer gegen Kummer (116 111), im Notfall Polizei (110) oder Rettungsdienst (112) anrufen!
Die Gesellschaft für Suizidprävention führt eine Übersicht der Angebote auf ihrer Webseite www.suizidprophylaxe.de.
Lass Dir helfen - Freunde fürs Leben ist ein Verein, der Jugendliche und junge Erwachsene über die Themen Suizid und seelische Gesundheit aufklärt.
Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe (0800 33 44 533) - im Netz unter: www.deutsche-depressionshilfe.de
Aus der rauen Realität in fiktive Welten zu flüchten, erscheint heute angesichts von Netflix und Co. selbstverständlich. Dies war zu Goethes Zeiten anders. Sein "Werther" sprengte die bis dahin übliche ästhetische Distanz. Nach einer Debatte über "Fehllektüren" ergänzte er Anmerkungen im Buch, die Werthers Verhalten problematisierten.
Goethe inspirierte andere Schriftsteller in Europa
Die meisterhafte Konstruktion und Kunstgriffe wie veränderte Ortsnamen, die die Authentizität der Briefe nahelegen sollen, sicherten dem Werk einen Platz in der Literaturgeschichte. Die Spiegelung von Werthers Seelenzustand in der Natur und seine tröstlichen Erfahrungen mit der eigenen Lieblingslektüre inspirierten andere Schriftsteller in Europa (z.B. Madame Bovary von Gustave Glaubert oder Emily Brontes Heathcliff). Diese Figuren teilen existenzielle Sehnsucht und tiefe Einsamkeit - zeitlose Themen, die heute neue Aktualität erfahren.
Ein 83-jähriger Antiquar erobert mit seiner Liebe zu alten Büchern das Internet. Er berichtet in den sozialen Medien über Tolstoi und Kant und wurde damit zum Influencer.
10.09.2024 | 1:58 minDass Menschen sich überhaupt so ausführlich mit ihrem Innersten befassen, war damals neu. Die "Sturm und Drang"-Epoche prägte ein neues Verhältnis zum eigenen Seelenleben. Manche von Werthers Aussprüchen ähneln indes erschreckend jenen von Menschen, denen heute wohl eine schwere Depression diagnostiziert würde: "Ich lege mich so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen: und morgens schlage ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder und bin elend."
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Forschung betont den "Papageno-Effekt"
Anteilnahme statt Verurteilung nach einem Suizid - auch dies war seinerzeit gesellschaftlich undenkbar. Heute sehen manche in diesem Ringen einen Ausdruck einer neuen Religiosität, da Werther bis zuletzt seinen Glauben an Gott nicht verliert.
Start-up bietet Hilfe für suizidgefährdete Jugendliche an
10.09.2024 | 9:32 minUnd die realen Nachahmungstaten? Wenn ein Buch zum Kult werde, werde es gewissermaßen zum Schicksal, schreibt Forscher Andree. Das Lesepublikum habe es dann mit "'Erlebnissen' von geradezu halluzinatorischer Wucht" zu tun. Eine solche emphatische Lektüre lässt sich auf spätere Kunstformen übertragen.
Die Forschung betont heute jedoch den "Papageno-Effekt": In Mozarts Oper "Die Zauberflöte" ist es Papageno, der Suizidgedanken überwindet. Und mit solchen Figuren, die schwere Krisen bewältigen, kann sich das Publikum ebenso identifizieren.
Zitat-Sammlung: Mit Werther lässt sich gut ...
"Seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiß weder dass Tag noch dass Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her."
"Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe - ich weiß nicht."
"Brauch ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter".
"Ich bin, wie ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und Deklamation verfallen, und habe darüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist."
"Ich werde sie sehen! ruf ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere, und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegenblicke; ich werde sie sehen! Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunsch weiter."
"Ist nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine innere und unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird?"
"Gewiss, weil wir doch einmal so gemacht sind, dass wir alles mit uns und uns mit allem vergleichen, so liegt Glück und Elend in den Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts gefährlicher als die Einsamkeit."
"Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht ... die Toren, die nicht sehen, dass es auf den ersten Platz gar nicht ankommt, und dass der, der den ersten hat, so selten die erste Rolle spielt!"
"Ich danke dir, Wilhelm, für deinen herzlichen Anteil, für deinen wohlmeinenden Rat, und bitte dich, ruhig zu sein."
"Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden alsdann auch Kraft genug haben, das Übel zu tragen, wenn es kommt."
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