Am 17. Juli 2014 wird der Linienflug MH17 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der Ostukraine abgeschossen, einem Gebiet der prorussischen Separatisten. Alle 298 Insassen, darunter 80 Kinder, sterben.
Getroffen wird die Maschine der Malaysia Airlines von einer Buk-M1-Rakete, einem Flugabwehr-Raketensystem russischer Bauart. Die Rakete soll ein vom Kreml entsandter Offizier zuvor aus Russland angefordert haben. Die Rechercheplattform "Bellingcat" und "Frontal 21" haben den Offizier als Oleg Wladimirowitsch Iwannikow identifiziert. Nach ihm fahndet das Gemeinsame Ermittlungsteam JIT, dem Australien, Belgien, Malaysia, die Niederlande und die Ukraine angehören.
Hochrangiger Mitarbeiter der russischen Militärgeheimdienstes
Iwannikow sei ein hochrangiger Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU, so ein Ermittler des ukrainischen Geheimdienstes gegenüber Frontal 21. "Im Juni 2014 kam er in das Separatistengebiet, er leitete Kampfhandlungen der illegalen militärischen Verbände gegen die ukrainische Armee und war für den Transport des Flugabwehr-Raketensystems Buk aus Russland in die Ukraine verantwortlich." Dafür habe man zahlreiche Belege wie zum Beispiel abgehörte Telefonate.
Die Identität Iwannikows bestätigt Frontal 21 ein ehemaliger Kommilitone, Wiktor Sekistow. Er hatte ab 1985 gemeinsam mit Iwannikow an der Kiewer Militärflugtechnischen Akademie der Sowjetarmee studiert und mit ihm zusammen von 1991 bis 1994 im 33. Jagdfliegerregiment in Wittstock, ehemals DDR, gedient.
Angehörige verklagen Russland
Igor Girkin, eine Art selbsternannter Verteidigungsminister der Separatisten, räumt auf Frontal21-Nachfrage die Existenz Iwannikows ebenfalls ein, verweigert "aufgrund der Würde des Militärangehörigen" jedoch jeden Kommentar. Auch die Frage, ob Iwannikow damals die Buk besorgte, will Girkin nicht beantworten. Dabei lieferte er am 17. Juli 2014 selbst einen Hinweis auf den Abschuss von Flug MH17 durch die Separatisten: Kurz nach dem Absturz der Boing hatte er gepostet, seine Leute hätten eine ukrainische Militärmaschine abgeschossen. Eine Frontal21-Anfrage zur Rolle von Iwannikow im Militärgeheimdienst GRU lässt das russische Verteidigungsministerium unbeantwortet.
Anwalt Veeru Mewa vertritt Angehörige von 65 Opfern. Ende November 2018 hat er in ihrem Auftrag Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagt.
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Unterdessen haben Angehörige von 65 niederländischen Opfern Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagt. "Ich erwarte von Russland, dass es seine Fehler zugibt," sagt Piet Ploeg, der selbst drei Angehörige verlor und jetzt Sprecher der Opfer ist. "Es war vermutlich kein absichtlicher Anschlag auf ein Passagierflugzeug", so der Niederländer. "Aber das kann man doch zugeben und sich bei den Hinterbliebenen entschuldigen." Die Niederlande und Australien, die besonders viele Opfer zu beklagen haben, machen mittlerweile Russland offiziell für den Abschuss von Flug MH17 haftbar. Die niederländische Regierung erwägt inzwischen eine Klage vor einem internationalen Gericht. Die Ukraine hat bereits vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem höchsten Gericht der UN, ein Verfahren gegen Russland angestrengt.
Fragen und Antworten zur Recherche
Bellingcat ist eine Rechercheplattform investigativer Journalisten um den britischen Netzaktivisten Eliot Higgins. Bellingcat wurde bekannt durch aufsehenerregende Recherchen zum Waffeneinsatz und zu Falschmeldungen im Syrienkrieg sowie durch Recherchen zum Flugzeugabschuss von MH17 in der Ostukraine am 17. Juli 2014. 2018 identifizierte Bellingcat ebenfalls aufsehenerregend die mutmaßlichen Täter im Fall Skripal. Einen guten Einblick in die Arbeit von Bellingcat gibt die niederländische Dokumentation "Bellingcat - Truth in a Post-Truth World"
Nach ihm suchte das Gemeinsame Ermittlungsteam JIT, dem Australien, Belgien, Malaysia, die Niederlande und die Ukraine angehören. Es veröffentlichte ein abgehörtes Telefonat und bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe, weil es überzeugt ist, dass “Oreon“ eine wichtige Rolle im Ukrainekonflikt spielt. Der Rechercheverbund Bellingcat kam dieser Bitte nach und machte sich auf die Suche.
Der Rechercheverbund verfolgte Telefonnummern, Namen und Adressen. Ein Ausgangspunkt war eine ukrainische Telefonnummer, von der aus “Oreon“ am 14. Juli 2014 telefoniert hatte. Die Spur führte nach Russland. Durch den Abgleich der Daten in einer Online-Datenbank, namens phonenumber.to, sowie in einer Phone-Sharing-App konnte Bellingcat die Person identifizieren, die sich hinter “Oreon“ und weiteren Pseudonymen verbarg: Oleg Wladimirowitsch Iwannikow.
Ein Indiz ist die Tatsache, dass sich Iwannikow online eine Trainingsmaske an die GRU-Adresse in Moskau schicken ließ, also an das Hauptquartier des russischen Militärgeheimdienstes. Frontal21 gegenüber gibt der ukrainische Geheimdienst an, vieles über Iwannikow zu wissen: welche Funktion er im GRU habe, wo sein Büro in Moskau sei, wann er in die Ukraine kam und wann er sie wieder verließ. Auch hätten die Ermittler Hunderte Telefonate mitgeschnitten, die klar machten, dass Iwannikow die Buk im Juli 2014 in das Separatistengebiet beordert habe. Ein weiteres Indiz lieferte ein ehemaliger Kommilitone Iwannikows.
Bellingcat hat über Open Sources und Internet-Recherche gearbeitet. Frontal21 griff das auf und führte das weiter. Frontal21 fand einen Kommilitonen, der mit Iwannikow in den 1980er Jahren in Kiew studierte (Высшее Военное Авиационное Инженерное Училище) und Anfang der 90er Jahre in Ostdeutschland diente. Sieben Jahre lang kannten die beiden sich. Der Kommilitone bestätigte also die Existenz Iwannikows, erkannte sein Bild und seine Stimme vom Fahndungsvideo des JIT.
Frontal21 fragte detailliert das russische Verteidigungsministerium an. Es reagierte aber nicht. Frontal21 konfrontierte den ehemaligen “Verteidigungsminister“ der Separatisten, der im Sommer 2014 eine entscheidende Figur im Ukrainekonflikt auf russischer Seite spielte, mit der Frage nach Iwannikow. Igor Girkin, so sein Name, bestätigte indirekt die Rolle Iwannikows.
Mit der Figur Iwannikows verdichten sich die Vorwürfe gegen Russland noch weiter, was inzwischen - im Unterschied zum Erscheinen der Bellingcat-Recherche - zu juristischen Schritten gegen Russland führte: Angehörige von 65 niederländischen Opfern haben Russland inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagt. Die Niederlande und Australien, die die meisten Opfer zu beklagen haben, machen Russland inzwischen offiziell haftbar für den Abschuss. Und die Ukraine hat bereits ein Verfahren gegen Russland vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angestrengt.
Unmittelbar nach dem Abschuss begann Moskau mit einer Desinformationskampagne. Der russische “Verteidigungsminister“ der Separatisten, Igor Girkin, behauptete, an Bord der MH17 seien nur Leichen gewesen. Russische Medien behaupteten, die ukrainische Armee hätte die russische Präsidentenmaschine abschießen wollen. Dann wurde die These kolportiert, eine ukrainische Suchoi hätte die MH17 abgeschossen. Noch im September 2018 behauptete die russische Armeeführung, es sei eine sowjetische Buk gewesen, die aber zu Sowjetzeiten in die Ukraine verlegt wurde und dort verblieben sei. Dabei hat das Gemeinsame Ermittlungsteam JIT längst festgestellt, dass die Buk aus der 53. Flugabwehr-Brigade der Russischen Föderation in Kursk stammt und von dort in die Ostukraine gebracht worden war.
… weil sie widersprüchlich und falsch sind. Präsident Wladimir Putin beklagte zum Beispiel, Russland sei bei den JIT-Ermittlungen nicht eingebunden gewesen. Dabei hatte Russland mit einem Veto im UN-Sicherheitsrat verhindert, dass ein gemeinsames UN-Tribunal zu MH17 eingerichtet werden konnte, an dem auch Russland beteiligt gewesen wäre.