Julia Dettmer verlor ihr Kind: Wenn das Schlimmste passiert
Julia verlor ihr Kind:Leben nach dem Tod des Kindes
von Laura Schäfer
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Julia hat erlebt, was für Eltern der größte Alptraum ist: Ihre Tochter Amalia starb mit nur eineinhalb Jahren. Nun spricht die trauernde Mutter über das Leben mit dem Verlust.
Julia mit ihrer Tochter Amalia
Quelle: Privat
"Wir hatten schon ein gesundes Kind - warum sollte das zweite krank werden?": Julia Dettmer klingt immer noch verwundert, wenn sie sich an das viel zu kurze Leben ihrer Tochter Amalia zurückerinnert.
Julia ist Journalistin, Buchautorin, Ehefrau und Vollblutmama. Theo ist zwei Jahre alt, als er im Dezember 2022 großer Bruder wird. Der Junge ist aufgeweckt, fröhlich und vor allem kerngesund. Bei den pränatalen Untersuchungen werden auch bei seiner Schwester keine gravierenden Auffälligkeiten entdeckt. Das Mädchen ist sehr groß, aber die Eltern ja auch. Nach der Geburt hatte sie "ein paar Wehwehchen", erinnert sich Julia im Gespräch mit ZDFheute. Amalia kommt fünf Wochen zu früh auf die Welt und war wegen ihrer Größe in der Beckenendlage eingepfercht. Die Ärzte sagen, manches müsse sich noch regulieren, geben aber keinen größeren Grund zur Sorge.
Der kommt im August 2023.
Die kleine Amalia litt an einem seltenen Gendefekt. Sie wurde nur eineinhalb Jahre alt.
Quelle: Privat
Plötzlich erleidet Amalia mehrere Schlaganfälle
Es ist ein heißer Tag. Theo macht Urlaub bei den Großeltern. Papa Florian ist auf der Arbeit, während sich Julia und Amalia bei der Hitze einen möglichst entspannten Nachmittag machen wollen. Da beginnt Amalias rechter Arm zu zucken. Sanft, aber sichtbar. Nach ein paar Sekunden hört das Zucken auf. Julia ruft bei der Kinderärztin an und die schickt sie sofort in die Notaufnahme. Auch dort: erst einmal Entwarnung.
Am nächsten Tag ist das Zucken zurück. Diesmal erfasst das Zittern die gesamte rechte Seite. Wie sich wenig später nach einem MRT herausstellt, erleidet das Baby einen Schlaganfall. Weitere folgen. Innerhalb weniger Tage ist Amalias Gehirn schwer geschädigt.
Es war klar, wir sind nicht in eine Krankheit gerutscht, sondern wir rutschen gerade in den Tod.
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Julia Dettmer
Bis zu 70 Prozent aller Schlaganfälle könnten verhindert werden, wenn Risikofaktoren wie Bluthochdruck frühzeitig erkannt und behandelt würden.09.05.2025 | 2:56 min
Die Ärzte warnen die Eltern, dass Amalia möglicherweise nur noch Tage leben wird, sollten die Schlaganfälle in der Geschwindigkeit weiterhin auftreten. Die Frage, warum sich Amalias Zustand so plötzlich, so drastisch verschlechtert, ist zunächst unbeantwortet.
Es war ein Blind- und Sinkflug. Das Einzige, das ich tun konnte, war, bei ihr sein. Ohne zu wissen, wie lange das noch so geht.
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Julia Dettmer
Erst durch eine plötzliche Herzmuskelverdickung und nachdem ihre Münchner Ärzte Forscher in den USA und Frankreich kontaktiert haben, kommt heraus: Das Mädchen leidet an einem so seltenen Gendefekt, dass die Krankheit noch gar keinen Namen hat. Zum Zeitpunkt ihres Auftretens ist Amalia eins von neun Kindern auf der ganzen Welt mit dieser Erkrankung.
Es kann einen schneller treffen als man denkt und die Folgen können verheerend sein: Ein Schlaganfall. Am Welttag des Schlaganfalls soll Bewusstsein dafür geschaffen werden, worauf es ankommt, um schnell helfen zu können.29.10.2024 | 1:50 min
10 Monate Intensivpflege - bevor Amalia stirbt
Wie durch ein Wunder hören die Schlaganfälle auf und die Kleine stabilisiert sich - sie war bereits auf die Palliativstation verlegt worden. Sie darf wieder mit ihrer Familie nach Hause gehen. Julia übernimmt die Intensivpflege zuhause, reduziert den Job auf ein Minimum, zerreißt sich zwischen beiden Kindern. Zehn Monate lang. Bis Amalia in einer Sommernacht im Juni 2024 stirbt.
Der Tod kommt überraschend, aber er ist keine Überraschung. "Ich hatte den Tod schon durchfühlt. Ich kannte das Gefühl noch von dem Moment, als sie die schweren Schlaganfälle hatte und man uns sagte, sie würde den nächsten nicht überleben. Nur diesmal war es hundertmal schlimmer", sagt Julia. Es habe sich wie ein Sog von schmerzlichen Emotionen angefühlt.
Welche Leistungen können pflegende Angehörige in Anspruch nehmen? Was tun, wenn man selbst eine Auszeit von der Pflege benötigt? Pflege-Expertin Felizitas Bellendorf mit den wichtigsten Infos.15.05.2025 | 5:11 min
Vermächtnis der Tochter aufschreiben
Und wie verarbeitet man das, was gemeinhin als das Schlimmste gilt, das Eltern passieren kann? Für Julia ist es das Schreiben. Bereits als Amalia die ersten Schlaganfälle erlitt, setzte sie sich abends hin und schrieb. Sie habe all das sortieren müssen, was so rasend schnell geschah, erklärt die Autorin. Nach Amalias Tod und als der Alltag wieder begann, hatte Julia zunächst Angst. Ihr Mann ging wieder zur Arbeit, der Sohn in den Kindergarten - zurück blieb Leere. In der Wohnung, weil Amalia fehlte, und im Terminkalender, weil die Therapien fehlten.
Zu wissen, ich habe eine neue wichtige Aufgabe, Amalias Vermächtnis zu Papier zu bringen, das hat mich innerlich erleuchtet und auch vor einem sehr tiefen Loch gerettet. Es hatte einen therapeutischen Effekt.
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Julia Dettmer
Die Psychologische Psychotherapeutin Nora Bruckhoff begleitet in ihrer Arbeit Menschen, die den Verlust einer geliebten Person verarbeiten. Zudem ist sie spezialisiert auf Persönlichkeitsstörungen. Sie arbeitet in der Praxis von Stefanie Stahl. ZDFheute hat sie im Interview Fragen zu den Themen Tod, Verlust und Trauerbegleitung beantwortet.
Wir Menschen sind die einzige Spezies, die sich über ihre Sterblichkeit überhaupt bewusst ist. Dieses Wissen und die Erinnerung daran, z.B. über einen Verlust im näheren Umfeld führt zur Bedrohung der Erfüllung zweier menschlicher psychologischer Grundbedürfnisse: Zum einen das Bedürfnis nach Kontrolle. Der Tod ist nicht kontrollierbar und stellt das ultimative Unbekannte dar. Zudem wird das Bedürfnis nach Autonomie verletzt. Wann und wie wir sterben, entscheiden wir nicht selbst.
Ein weiterer elementarer Faktor, der die Angst vor dem Tod erklärt, ist natürlich der Verlust: Entweder verlieren wir unsere geliebten Menschen und Begleiter oder wir verlieren uns selbst, unser Bewusstsein, unsere Geschichte, unsere Beziehungen. Bei dem Verlust des eigenen Kindes kommen noch weitere sehr belastende Aspekte hinzu: Die natürliche Lebensordnung wurde ausgehebelt, was tiefe Gefühle von Ungerechtigkeit und Unnatürlichkeit auslösen kann. Durch die einzigartig intensive Bindung zum eigenen Kind reißt der Verlust ein tiefes Loch in unser Bindungssystem, was sich häufig auch körperlich in Schmerzen, Schlaflosigkeit und Herzrasen äußert. Mit dem Verlust des Kindes geht auch immer der Verlust einer gemeinsamen Zukunft einher.
Jeder, der sich mit dem Tod beschäftigt, ist mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert, was Gefühle von Trauer und Ohnmacht auslöst. Darauf reagieren wir Menschen oft mit Vermeidung. Wir wollen diese Gefühle nicht spüren und haben vielleicht sogar Angst aus diesen Gefühlen nie wieder herauszukommen. Das ist aber nicht der Fall. Solange man selbst psychisch stabil ist, sind auch negative Gefühle endlich und gehören zum Leben mit dazu. Diese Vermeidung kann und darf man also aktiv abbauen. Dabei hilft es, sich über Kunst, Filme, kulturelle Rituale und einer Gedenkkultur an das Thema heranzutasten.
Ganz wichtig an dieser Stelle ist es zu wissen, dass Trauer eine absolut normale und angemessene emotionale Reaktion auf einen tiefen Verlust ist und nur selten pathologisch wird. Trauer stellt einen Anpassungsprozess dar, um das Leben nach dem Verlust neu zu strukturieren. Trauer verläuft immer wellenartig, es kann Momente ohne Schmerz geben und sehr schmerzvolle Phasen. Psychologisch ist das Pendeln und das "Nehmen der Wellen" wichtig für den Verarbeitungsprozess: Trauer zulassen, gute oder weniger belastete Momente aber eben auch, also nicht verharren, aber auch nicht vermeiden.
Als Unterstützer*in eines Trauernden ist es wichtig, die Gefühle der trauernden Person zu akzeptieren und geschehen zu lassen. Unterstützer*innen haben oft, sogar unabhängig vom Thema Trauer und Verlust, das Gefühl, die Probleme und Gefühle ihres Gegenübers lösen und mindern zu müssen. Das ist jedoch gar nicht der Fall, vielmehr geht es darum, einen verständnisvollen, stützenden Rahmen zu bieten, in dem Betroffene ihre Trauer, Verzweiflung, Ohnmacht und Wut fühlen und ihre Gedanken vorbehaltlos teilen dürfen.
Beistand und Mitgefühl zu zeigen, über Anwesenheit, Nachrichten und/oder Übernahme von kleineren Pflichten des/der Trauernden und Zeit geben, sind die wichtigsten Dinge, die man tun kann. Ein persönlicher Tipp ist noch das ständige Bereitstellen von warmen Getränken. Der körperliche Aspekt von Trauer wird oft unterschätzt und ein Tee oder Kaffee wärmt ein Stück von innen. Zudem: Haben Sie bitte keine Angst vor Trauernden. Sie können nichts falsch machen bei der Unterstützung. Und wenn Sie nicht mehr weiterwissen, fragen Sie einfach nach, was die oder der Betroffene gerade gebrauchen könnte.
Amalias Geschichte ist zu einem Buch geworden. Denn Julia ist es wichtig, zu zeigen, dass es auch während der Krankheitsgeschichte ihrer Tochter Licht an dunklen Tagen gab. Sie ist dankbar, dass sie Amalia in ihrem Leben hatte, auch wenn es schwere Momente gab. "Ich habe viel über Grenzen gelernt. Sie sind sehr weit dehnbar", sagt Julia. Die Erfahrung habe sie sensibler gemacht für Themen wie Elternschaft, Verantwortung, Pflege und Tod.
Man kann dem Tod die Bedrohlichkeit nehmen, indem man mehr über ihn spricht. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich über Amalias Schicksal spreche: die Enttabuisierung dieses Themas.
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Julia Dettmer
Schon bevor wir geboren werden, erleben wir Unglaubliches. Bereits das Ungeborene entwickelt komplexe Wahrnehmungen und ein Gedächtnis, sein Gehirn reagiert auf die Mutter.09.02.2025 | 43:18 min
Familie Dettmer - für immer eine mehr
Julia und ihr Mann haben einen schönen Spruch geprägt: Sie sind jetzt nicht eine weniger, sondern für immer eine mehr. Amalia ist nicht mehr da, aber natürlich sei sie Mutter zweier Kinder, sagt Julia.
Ich spüre Amalia überall, ich sehe sie überall. Sie hat uns ganz tief im Innern berührt und tut es weiterhin. Das wird nie weggehen. Die Liebe lässt nie nach.
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Julia Dettmer
Für die Zukunft wünschen sich Julia und Florian ein drittes Kind. Julia ist sich sicher: Wenn die Zeit reif ist, wird Amalia ihrer Familie noch eine Seele schicken.